von Bettina Schnerr, 30.08.2021
Dreissig Jahre und sechs Gäste

Für die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ist die Rechnung aufgegangen, sagt sie: „30 x 6 = 2021“ lautet das Motto zum 30-jährigen Jubiläum. Dahinter verbergen sich sechs verschiedene Geburtstagsbeiträge zwischen August und dem kommenden März. Für den Auftakt mit dem Frauenfelder Autor Usama Al Shahmani hiess es gute Schuhe zu schnüren.
Wer den Auftakt zu den Jubiläumsveranstaltungen der Thurgauer Kulturstiftung miterleben wollte, musste dafür schon ein kleines bisschen was tun: Laufen nämlich, denn die Teilnehmenden liefen mit Usama Al Shahmani zur Kartause Ittingen. Der Spaziergang wurde immer wieder unterbrochen von kleinen Pausen, in denen der Autor Texte las über seine Erfahrungen mit dem Gehen und Weggehen. Morgens früh um sieben übrigens.
„Eine bewusste Wahl,“ erzählt Stefan Wagner, Beauftragter bei der kantonalen Kulturstiftung. „In den Romanen von Al Shahmani ist Flucht ein durchgehendes Thema, das Weggehen und das neue Wege suchen müssen.“ Was lag also näher, als Rahmen dafür einen literarischen Spaziergang zu wählen und über die Uhrzeit wenigstens ein bisschen das Ungemütliche von Flucht und Suche zu reflektieren?
Usama Al Shahmani spricht im taz talk „Von der Heimat im Exil“ mit Jan Feddersen
Der literarische Spaziergang bricht mit den Konventionen und ermöglichte unterwegs persönliche Gespräche, wie sie auf Lesungen sonst nicht möglich sind. Eine Erfahrung, die sowohl das Publikum als auch der Autor als Bereicherung wahrnahmen. Und dann war da auch noch die Natur, die stärker als sonst die Veranstaltung zu ungewohnter Uhrzeit mitprägte: Kurz nach dem Abmarsch in Frauenfeld an diesem kühlen Morgen entdeckte Al Shahmani einen Biber in der Murg, der ihm für einige Minuten fast die Show stahl.
Ein Glücksfall für den Kanton
Dass die Kulturstiftung das klassische Muster einer Lesung aufbricht, kommt nicht von ungefähr. Das liegt unter anderem daran, dass die Kulturförderstelle 1991 als Stiftung gegründet wurde und damit freier und unabhängiger agieren kann als ein Kulturamt – nicht nur in den Details. Als Stefan Wagner, Kunsthistoriker, Kurator und Kulturvermittler, 2019 als Beauftragter zur Kulturstiftung kam, sagte er über seine Motivation: „Ich wollte an einen Ort, an dem ich das Gefühl habe, etwas bewegen zu können. Die Kulturstiftung ist für mich ein solcher Ort.“

Ein literarischer Spaziergang bricht mit den Konventionen und ermöglicht unterwegs persönliche Gespräche. Eine Erfahrung, die sowohl das Publikum als auch der Autor als Bereicherung wahrnehmen. | Bild: Bettina Schnerr
Und er nutzt seine Bewegungsfreiheit. Jüngstes Beispiel ist das Förderkonzept Ratartouille, bei der das Publikum explizit in die Kulturgestaltung und Kulturförderung einbezogen wurde. Dieses Konzept hat einige Wellen geworfen und viele Fragen ausgelöst.
„Die Organisation als Stiftung ist für den Thurgau ein Glücksfall,“ sagt Wagner. „Wir können flexibler reagieren als ein Kulturamt, weil wir keinen behördlichen Verordnungen unterliegen. Würde ein Amt so etwas wie Ratartouille lancieren wollen, hätte es grosse Widerständen aus dem Weg zu schaffen.“
Kultur als Standortfaktor
Seit Gründung der Kulturstiftung hat sich die Kultur im Kanton deutlich verändert. Insgesamt war das Angebot vor dreissig Jahren eher schmal zu nennen, findet der Kulturvermittler. Wer sich heute im Thurgau umschaut, treffe auf ein kreatives Angebot: „Die Kunstszene ist kleinformatig und wird massgeblich von den Aktiven mitgestaltet. Das sorgt für Vielfalt und die Selbstorganisation ist sehr stark, eine richtige Grassroots-Bewegung,“ freut sich Wagner, ein kreativer Gegensatz zu wohlorganisierten Museen, zum Erhabenen und Musealen klassischer Kunstpräsentation. „Im hiesigen Geschehen spürt man eine ökonomische und gesellschaftliche Relevanz.“
„Die Kunstszene ist kleinformatig und wird massgeblich von den Aktiven mitgestaltet. Das sorgt für Vielfalt und die Selbstorganisation ist sehr stark, eine richtige Grassroots-Bewegung.“
Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung Thurgau
Eine andere Veränderung brachte die Digitalisierung mit sich. Daraus entstanden nicht nur veränderte Formen der Förderanträge vom maschinengeschriebenen Dossier bis zum Antrag per Mail. Auch in die Kunst selbst ist das Digitale eingezogen, durch neue Bereiche und Kunstformen, aber auch durch veränderte Produktionsbedingungen und neue Formen der Werbung. „Insgesamt hat sich die Kunstszene deutlich professionalisiert,“ stellt Stefan Wagner fest.

Der Kulturvermittler und Kurator Stefan Wagner ist Beauftragter der Kulturstiftung des Kantons Thurgau und organisiert für das Jubiläumsjahr 2021 eine mehrteilige Veranstaltungsreihe. | Bild: Bettina Schnerr
Die Kulturförderstelle in der Rückblende
Im Kanton wird die Kulturstiftung sehr gut aufgenommen und man erhalte sehr gute Rückmeldungen. Das liege nicht nur an der schlanken Bürokratie, sondern auch an der Nähe zu den Kulturschaffenden, wie sie die in der Schweiz sonst üblichen Kulturämter nicht aufwiesen: „Wir in der Kulturstiftung sind selbst Kulturschaffende und sind nah an der Szene dran.“ So kommt es, dass die Stiftung sich oft auch ohne konkrete Förderziele mit Künstlern und Künstlerinnen zusammensetze, sie berate oder Netzwerke aufbaue.
Die Initiative für die Kulturstiftung geht auf das Umfeld und den Schwung der 700-Jahr-Feiern der Eidgenossenschaft zurück. Kunstinteressierte und Kulturschaffende schufen den nötigen Rahmen. Zuvor war Kunstförderung auf kantonaler Ebene Sache des Regierungsrats. In ihrer Pressemitteilung schreibt die Kulturstiftung über ihre Gründerjahre, dass sich beinahe ein ausschliessliches Herrengremium um die Förderung des professionellen Kulturschaffens kümmerte. Aktuell sind unter den neun Stiftungsräten mehr Frauen vertreten. Der gesellschaftliche Wandel sei also nicht nur in der Kunst aufgegriffen worden, sondern spiegle sich auch an dieser Stelle wider.
Rückblick und Ausblick zugleich
Nun feiert die Kulturstiftung ihr Jubiläum mit einer Reihe von Veranstaltungen. Der literarische Spaziergang mit Usama Al Shahmani bildete den Auftakt zu dieser Reihe. In den kommenden Monaten sind noch weitere Veranstaltungen mit Thurgauer Kunstschaffenden geplant.
Die Stiftung versteht ihr Programm als Alternative zur herkömmlichen Festschrift und will lieber auf aktive Weise Vergangenheit und Gegenwart verbinden: dreissig Jahre und sechs Gäste – mit Start im Jubiläumsjahr 2021. Als Akteurinnen und Akteure eingeladen sind Kulturschaffende aus dem Thurgau, die bereits von der Kulturstiftung gefördert wurden oder diese auch mitprägten. „Damit bewegt sich die Vergangenheit in der Gegenwart und es darf durchaus spekuliert werden, was die Kultur im Thurgau in Zukunft bewegt,“ verspricht die Ankündigung.
Kleine Vorschau auf den Oktober: Das Kukuruz Quartett spielt Julius Eastman auf der Biennial of Contemporary Arts Lissabon
Veranstaltungen zum 30-jährigen Jubiläum der Kulturstiftung Thurgau
September:
„Branches + Dots“: Ausstellung Rahel Müller
Datum: 24.9. – 14.10.21
Ort: Geschäftsstelle Kulturstiftung des Kantons Thurgau, Lindenstrasse 12, Frauenfeld
Oktober:
„Ruhestörung“: Das Kukuruz Quartett mit Philip Bartels, Duri Collenberg, Simone Keller und Gast Vera Kappeler spielt Julius Eastman
Datum: 22.10.2021, 19 Uhr
Ort: Staatsarchiv des Kantons Thurgau, Zürcherstrasse 221, Frauenfeld
Zutritt nur mit COVID-Zertifikat
November:
„Applaus“: Animation von Michael Frei und Mario von Rickenbach
Datum: Eröffnung am 24.11.2021, 18 Uhr
Ort: Geschäftsstelle Kulturstiftung des Kantons Thurgau, Lindenstrasse 12, Frauenfeld
Februar:
„Bridges Over Troubled Bubbles“: Über die Spaltung der Gesellschaft und wie wir das vielleicht wieder hinbekommen können, mit Michael Lünstroth und Samantha Zaugg
Datum: 23.2.2022, 19 Uhr
Ort: Kulturzentrum Kult-X, Kreuzlingen
März:
„Karriere?“ Lilo Weber mit Gästen über Karrieren im zeitgenössischen Tanz
genauere Informationen folgen

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