von Judith Schuck, 19.11.2025
Anders – und doch erstaunlich ähnlich

Politiker:innen und Kulturschaffende miteinander ins Gespräch zu bringen – das ist die Intention hinter der Veranstaltungsreihe «Kultur trifft Politik». Bei der dritten Ausgabe im Eisenwerk bot sich die Gelegenheit, einander näher kennenzulernen. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Alle 130 Kantonsrät:innen hatten eine Einladung erhalten. So viele haben sich am Montagabend nicht zum Zuhören und Diskutieren im Eisenwerk eingefunden, doch das Verhältnis zwischen Kultur und Politik zeigte sich überraschend ausgewogen. Kultur trifft Politik #3 zeigte zudem, dass das Bewusstsein in der Politik, sich mit den Anliegen von Kulturschaffenden auseinanderzusetzen, allmählich steigt.
Die Grenze zwischen Kultur und Politik ist oft fliessend. Das wird vor allem beim Speed-Dating deutlich, bei dem sich im 1:1-Gespräch Vertreter:innen beider Seiten näher kennenlernten. Kunst ist in aller Regel in irgendeiner Weise politisch, oder ihre Akteur:innen engagieren sich politisch, um überhaupt Gehör zu finden; und die anwesenden Politiker:innen zeigen oft eine enge Nähe zu kulturellen Themen.
«Vielleicht sind die beiden Welten gar nicht so verschieden», merkt Moderatorin Samantha Zaugg einleitend an. Um dieser Frage nachzugehen, stellen sich zunächst vier Menschen aus beiden Bereichen kurz vor.
Bildergalerie vom Abend im Eisenwerk
Politiker und Künstlerinnen geben Einblicke in ihren Alltag
Claudio Bernold ist noch recht frisch im Amt als Frauenfelder Stadtpräsident. Er kommt eigentlich aus dem Bildungssektor und ist ein Neuling in der Politik. Er hat sich vor allem dem Sport verschrieben, es vergehe aber kein Tag, an dem er nicht einen Song von Bruce Springsteen höre. «Mein Alltag ist von vielen Sitzungen geprägt.» Er ist zuständig für Finanzen und Steuern, leitet aber nun auch die Kulturkommission der Region Frauenfeld. «Ich bin ein blutiger Anfänger in diesem Bereich, aber es ist eine Türe, die jetzt aufgeht.»
Das ist «Kultur trifft Politik»
Die Beziehung zwischen Politik und Kultur gilt oft als schwierig. Zu unterschiedlich scheinen die Welten, zu verschieden die Sprachen. Doch was passiert, wenn sich Politiker:innen und Kulturschaffende einfach einmal persönlich begegnen – ohne Schlagzeilen, ohne Vorurteile? Das ist der Kerngedanke des Dialogformats «Kultur trifft Politik», das ig kultur ost und thurgaukultur.ch 2024 lanciert haben. Finanziell wird das Projekt durch die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ermöglicht.
«Kultur trifft Politik» ist keine klassische Podiumsdiskussion – es ist ein Versuch, gegenseitiges Verständnis erfahrbar zu machen. Die Veranstaltungsabende finden oft in mehreren, sich ergänzenden Teilen statt. Diese verschiedenen Teile haben verschiedene Formen und sollen jeweils unterschiedliche Zugänge zum jeweiligen Thema bieten. Dies kann in Form von Inputs, Workshops oder Speed-Dating geschehen. Die Devise dabei immer: Veränderung beginnt selten mit grossen Worten, sondern mit einem ehrlichen Gespräch.
Das Dialogformat will Brücken schlagen, Verständnis fördern – und die Basis für gemeinsame Zukunftsarbeit legen. Denn: Wer die Zwänge und Herausforderungen der anderen Seite kennt, kann besser zusammenarbeiten. Die Veranstaltungsreihe wird auch 2026 fortgesetzt.
Mirjam Wanner ist Künstlerin, aber auch Kuratorin und leitet die Shedhalle im Eisenwerk. Dies sei ein Raum, der sich dem marktwirtschaftlichen Druck entzieht, wo Künstler:innen sich ausprobieren dürfen – verbunden mit dem Risiko, dass etwas nicht gelingt. Sie bezieht sich auf eine Aussage der Sängerin Nina Simone, die sagte, dass Kunstschaffende immer die Zeit reflektieren müssten, in der sie leben. Nur so könnten Kunstschaffende gesellschaftliche Entwicklungen mitprägen.
«Freude darf kein Luxus sein»
Reto Ammann, Fraktionspräsident der Grünliberalen Partei GLP im Grossen Rat, sieht als hauptberuflicher Unternehmer – ebenfalls im Bildungssektor – viele Parallelen zu Kultur und Unternehmertum. Als Verwaltungsratspräsident von SBW Haus des Lernens wünscht er sich noch mehr «freche, provozierende» Kunst an seinen Schulen. Er findet es wichtig, dass die Kunst ein kritisches Auge auf die Politik hat. Sein Appell an Kunstschaffende: «Geht nicht nur zur Politik, sondern auch zum Unternehmertum, sucht Verbindungen.»
Die Schriftstellerin Tabea Steiner konnte in diesem Jahr zwei Residencies absolvieren. Kunst – in ihrem Falle Bücher – bereite Menschen Freude, so Steiner. «Freude darf kein Luxus sein», sagt sie mit Blick auf die harte Arbeit der meisten Kunstschaffenden. Sie sieht Ähnlichkeiten zwischen Kunstschaffen und politischem Engagement: Während sie als Schriftstellerin mit Fantasiewelten arbeitet, könnten Politiker:innen Ideen in die Realität umsetzen.
Persönliches Kennenlernen als Brücke
Nach diesem Überblick auf die verschiedenen Positionen treffen sich je eine Vertreterin beziehungsweise ein Vertreter aus Politik und Kultur am Stehtisch zum Speed-Dating. Hier entstehen nicht nur Begegnungen, sondern auch neue Einsichten. Tabea Steiner und GLP-Kantonsrätin Nicole Zeitner sprechen über den Thurgau-Bezug, den es braucht, um als Kulturschaffende:r vom Thurgauer Lotteriefonds zu profitieren. Sie tauschen sich auch darüber aus, welche Bereiche in ihrem Beruf sichtbar sind und wie hoch der Anteil an unsichtbarer Arbeit ist.
Die Autorin Tabea Steiner empfindet ihren Beruf als sehr sichtbar, aber bei gemeinsamen Projekten mit anderen Kunstschaffenden investiere sie oft viel unbezahlte Arbeit, die erst durch die Medien sichtbar werde. Als Politikerin muss auch Nicole Zeitner abwägen und priorisieren, was sich thematisch wirklich lohnt anzugehen. «Es kommen viele Anliegen auf mich zu; da muss ich gut hinhören und überlegen, was kann ich vertreten und was sind meine Stärken.»
Tobias Lenggenhager, Gemeinderat der Frauenfelder Partei Chrampfe und Hirne (CH), stellt im Gespräch mit Claudia Thom von der Kreuzlinger Kulturkommission fest, dass sie ähnliche Fragen beschäftigen. Als Architekt habe er einen sehr politischen Beruf, der aber gleichzeitig ein kulturschaffender Prozess sei. Sie treffen sich beim Thema Stadtentwicklung, das beide beschäftigt.
Im Vorfeld der dritten Ausgabe unseres Dialogformats «Kultur trifft Politik» wollten wir aufzeigen, was es heute bedeutet, Politiker:in zu sein. In fünf Texten porträtieren wir Thurgauer Politiker:innen, die sich auf den verschiedenen Ebenen, um den politischen Diskurs bemühen. Wir zeigen auf, welchen Herausforderungen sie gegenüberstehen und wie viel Gestaltungsmöglichkeiten sie wirklich haben.
In den Folgen der Serie treten auf: Nina Schläfli (SP), Judith Ricklin (SVP), Daniel Eugster (FDP), Patrick Siegenthaler (Die Mitte) und Felix Meier (SP). Bei der Auswahl haben wir auch darauf geachtet, ob die Politiker:innen Berührungspunkte mit kulturellen Themen haben. Und wie sie sich bei diesem Thema in ihren Parlamenten positionieren. Alle Texte bündeln wir schliesslich in einem eigenen Dossier. Du findest es hier.
Bereits im vergangenen Jahr haben acht Thurgauer Kulturschaffende unter dem Titel «Mein Leben als Künstler:in» aus ihrem Leben berichtet. Auch diese Texte findest du nach wie vor bei uns im Magazin. Und zwar hier.
Eine Gemeinsamkeit: Ein Grossteil der Arbeit ist unsichtbar
Überschneidungen von Kultur und Politik gibt es auch bei Roland Welti, ebenfalls CH-Politiker. Er war früher einmal Präsident des Eisenwerks und datet mit dem Musiker und Journalisten Andrin Uetz. Auch sie sprechen über die «unsichtbare Arbeit». Roland Welti sagt: «Es gibt ein Schaufenster, wo die Politik sichtbar wird. Das ist aber klein. 90 Prozent der Arbeit sind für die Öffentlichkeit nicht sichtbar.»
Dies sei als Musiker ähnlich, sagt Andrin Uetz: «Auf der Bühne bekommen wir für eine Stunde Sichtbarkeit und Hörbarkeit beim Konzert. Dem voraus geht aber die Anreisezeit, der Auf- und Abbau, die Produktion ...» Auch im Journalismus bekäme er Öffentlichkeit, aber auch hier stecke viel Arbeit dahinter, die nicht sichtbar ist.
Ihnen fällt noch eine Ähnlichkeit zwischen Kultur und Politik auf, deren Brücke der Journalismus ist: Die mediale Berichterstattung nimmt in beiden Bereichen immer mehr ab.
Der Rückzug des Journalismus betrifft Kultur und Politik
Angereichert von neuen Erkenntnissen und durch den konkreten, persönlichen Kontakt zur anderen Seite geht es vielleicht auch verständnisvoller für diese in die Schlussdiskussion.
SP-Kantonsrat Felix Meier ist als Leiter der parlamentarischen Gruppe Kultur und Mitglied der kantonalen Kulturkommission für die Anliegen Kulturschaffender offen und ruft sie dazu auf, direkt auf die Politiker:innen zuzukommen, wenn es Fragen und Themen gibt. «Wir sind die Vertreter:innen des Volkes und natürlich auch für die Künstler da.»
Felix Meier betont, dass Kultur zur menschlichen DNA gehöre, «einen Graben zwischen Kultur und Politik gibt es nicht. Die Frage ist, wie können wir uns das bewusst machen?»
Alles ist Kultur, alles ist politisch
Die Künstlerin und Fotografin Thi My Lien Nguyen sagt ebenfalls: «Für mich gibt es keinen Graben. Alles ist Kultur.» Unser ganzes Verhalten sei kulturell geprägt; sie sieht aber auch überall den Einfluss der Politik: «Wie ich auf einem Stuhl sitze, meine Überzeugungen – das kann alles sehr politisch sein. Die Herausforderung ist, wie wir noch besser miteinander reden können.»
Claudio Bernold glaubt, dass es in der Politik zu wenig Informationen oder ein mangelndes Bewusstsein für die Bedingungen von Kulturschaffenden gebe. «Wie kommen wir an die Politiker:innen, die sich nicht für Kultur interessieren? Wie können wir zusätzliche Mittel für die Kunst erschliessen?»
Der Lotteriefonds – ein Minenfeld?
Für Diskussionen sorgt hier der Thurgauer Lotteriefonds. Ein Problem sieht Mirjam Wanner darin, dass dort viel Geld für Kultur drin liegt, das nicht abgeholt wird. Sie bezeichnet das Reden über den Lotteriefonds gar als Minenfeld. Reto Ammann pflichtet ihr bei, dass es eine Gefahr sei, wenn zu viel in einem Topf sei, denn dann wüchsen auch die Begehrlichkeiten. In der Folge könnten Dinge über den Lotteriefonds finanziert werden, die eigentlich Staatsaufgabe wären, so Ammann.
Für dieses Problem findet sich am Abend allerdings keine Lösung mehr. Felix Meier und Mirjam Wanner sind sich zumindest einig, dass die Kultur keine alleinige Bringschuld habe, sich stets selbst um ihre Belange zu kümmern, sondern Gesellschaft und Politik auch eine Holschuld.
Demütig, arbeiten zu dürfen?
Thi My Lien Nguyen weist auf ein weiteres Problem von Kulturschaffenden hin: «Wir sollen dankbar und demütig sein, vor allem als Frau. Das wird von Menschen, die an der Wall Street ihrer Arbeit nachgehen, nicht erwartet. Wenn sie einen Erfolg haben, sagt niemand: ‹Jetzt sei aber mal zufrieden›.» Gerade in Lebenskrisen greifen die Menschen oft zur Kultur – ein Zeichen für ihre wichtige, helfende Bedeutung. «Darum sollten wir Kulturschaffende auch öffentlich zeigen, wie prekär wir leben.»
Das Interesse an den Arbeitsbedingungen beider Seiten scheint an diesem Abend auf jeden Fall befeuert worden zu sein. Reto Ammann möchte gleich am Mittwochmorgen im Grossen Rat mit Felix Meier und Nicole Zeitner im Gspänli Vorstösse zum Thema bringen. Und Thi My Lien Nguyen, die zwar schon als Fotografin für die Thurgauer Zeitung Einblick in den Grossen Rat erhielt, bekommt Lust, sich intensiver mit der parlamentarischen Arbeit zu befassen.

Von Judith Schuck
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