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von Barbara Camenzind, 11.06.2019

Eine Thurgauer Tradition

Eine Thurgauer Tradition
Musik auf leisen Socken: Nicolas Altstaedt und das Lockenhaus Festival Ensemble | © Barbara Camenzind

Zum 25. Mal Ittinger Pfingstkonzerte. Wann beginnt eine Tradition? Geht es nach der Definition des Historikers und regierenden Innerrhoder Landammanns Roland Inauen, hat sich das Thurgauer „Klassik“-Musikfestival nun zur Tradition entwickelt. Welches nicht nur die Asche bewahren, sondern auch das Feuer hüten soll. Wie spannend, das beides möglich ist in der Kartause. Die Pfingstkonzerte konnten sich von ihren Übervätern András Schiff und Heinz Holliger lösen. Bei aller Würdigung und Respekt für ihre grossartige künstlerische Arbeit: Sehr gut, irgendwann musste es weitergehen. Ein Kommentar von Barbara Camenzind.

Die Ittinger Pfingstkonzerte, obwohl viel kleiner, können qualitätsmässig in einer Reihe mit der Schubertiade Vorarlberg und anderen internationalen Festivals genannt werden. Kammermusik-Weltklasse in der Kartause Ittingen: Ja, das hat der Thurgau zu bieten. Und die so genannt „unvermeidlichen Klassik-Festival-Hopper“, die Konzertfreaks, die in Salzburg, Luzern, Hohenems und Schwarzenberg anzutreffen sind, traf man in den letzten Jahren auch vermehrt in der Kartause. Natürlich immer in der ersten Reihe. Bei aller Ironie, ist das ein Ritterschlag für die Pfingstkonzerte. Diese Leute kennen sich hervorragend aus und sind vor allem eines: bestens vernetzt und bringen ihre eigene Art von Fankultur mit. Die in der Schweiz (Autogramme einholen) vielleicht eher etwas argwöhnisch betrachtet wird. Wie dem auch sei.

Die Pfingstkonzerte haben ihrer grossen österreichischen Schwester in Sachen Beweglichkeit etwas voraus: Während Übervater Gerd Nachbauer in Hohenems und Schwarzenberg immer noch kompetent federführend, aber etwas starr wirkt, hält sich die in Ittingen agierende Hochuli Konzert AG wohltuend im Hintergrund, die Stiftung sorgt für das stimmige Ambiente und der künstlerische Leiter macht das Programm in Absprache und mit Fokus auf seine Person und wird alle ein, zwei Jahre ausgetauscht. Das darf ruhig so sein, das ist beweglich, eine Spielvorgabe, oft gelesen bei klassischen Werken. Nach dem quirligen Blockflötenfaun Maurice Steger im letzten Jahr,  nun der kontemplativ- spirituelle Cellist Nicolas Altstaedt. Die Schubertiade setzt auf Staranhäufung - Ittingen auf wechselnde Stars & Friends. Das ist sehr schweizerisch gedacht, unsere Magistraten sind auch nur solche auf Zeit.

Über Musikkultur reden: Gesprächsnotizen aus dem Ittinger „Ochsenstall", anlässlich der diesjährigen Pfingstkonzerte“. Bild: Barbara Camenzind

Und das Publikum?

So wie seit 25 Jahren, waren das Publikum auch in diesem Jahr beseelt vom Zauber der Kartause in Verbindung mit der Musik, dem praktischen Angebot der klösterlichen Gastfreundschaft und der tollen Anlage. Die liebliche Landschaft, die Fokussierung auf die inneren Prozesse in der Auseinandersetzung mit der Musik. Das kann nur die Kartause Ittingen in dieser radikalen Form, dagegen wirken andere Festivals unpersönlicher. Die Gäste geniessen das.

Auch die Auseinandersetzung mit neuer Musik, wie in diesem Jahr von den Besuchern hochgelobte Komponistin Helena Winkelmann. Die meisten Pfingstkonzerte-Fans sind nicht mehr 20 Jahre alt. Andererseits: Na und? Im Gespräch mit den Festivalbesuchern in der Bar „Ochsenstall“ wurde dieses Thema lebhaft diskutiert. Die «Generation Nachkriegszeit» empfindet die Möglichkeit, zu klassischen Konzerten gehen zu können, als Geschenk und Befreiung. Klassik - dieser Krückenbegriff für komponierte Musik für den Konzertsaal - auch dies eine Krückendefinition -  war jahrhundertelang nicht für alle Menschen zugänglich. Tonträger, Wirtschaftsaufschwung und die Besinnung auf Bildung machten dies möglich.

Bei der Jugendförderung ist noch Luft nach oben

Heute ist Klassik eine Option. Ein Menü, dessen Zutaten man nicht kennt, oder nicht kennen will. Eine Schublade, die selbst die Volksschule, trotz Bilder malen zu Smetanas Moldau nicht ganz aufreissen konnte. In Punkto Option könnten die Pfingstkonzerte etwas kulturvermittelnd unterstützen: Im Jugendorchester Thurgau (JOTG) oder dem Thurgauer Jugend-Symphonieorchester(TGJSO) sitzen sehr viele interessierte, talentierte junge Leute, die nicht nur, aber oft mit sehr, beziehungsweise zu grosser Musik konfrontiert werden. Verbilligte Tickets, oder amend ein Meisterkurs würde das hiesige Musikschaffen enorm beflügeln, Erfahrungen schaffen und fördern. Was in Vorarlberg unter den Musik-Studierenden geschätzt wird, von dem könnten Jungtalente auch Ittingen lernen und profitieren. Und zuguterletzt: Vielleicht stossen die Ittinger Pfingstkonzerte irgendwann mal die Türen auf zu anderen Genres. Schubladen sind doch was für Anfänger.

Zu den Konzertbesprechungen der Ittinger Pfingstkonzerte 2019

1. Ittinger Pfingstkonzerte, der Sonntagnachmittag: Das Konzert mit Vilde Frang und Alexander Lonquich mit Werken von Schubert und Schostakowitsch sorgte für Gänsehaut pur.

 

2. Ittinger Pfingstkonzerte, der Sonntag: Nicolas Altstaedts feinsinnige Interpretation der Bach’schen Meisterwerke passte wunderbar gespenstisch in die Kartäuserkirche.

 

3. Ittinger Pfingstkonzerte, der Montag: Während Cellist Nicolas Altstaedt zeitgeistlose Schönheit in den Saal zaubert, kommt„The Protecting Veil“ von John Tavener seltsam verstaubt daher.

 

4.  «Ein Leben ohne Musik wäre Barbarei»: Nicolas Altstaedt, künstlerische Leiter und Cellist, im Porträt.

 

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