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von János Stefan Buchwardt, 20.07.2020

Kunststück unter freiem Himmel

Kunststück unter freiem Himmel
Andrej Reimann zeigt in seiner Rolle des Berufsnarren Feste, wie nah Tragik und Komik beieinanderliegen können. In der Kiste Malvolio (Maximilian Kraus), der eingesperrte Haushofmeister der Gräfin Olivia. | © Mario Gaccioli

Auf den Brettern des inzwischen schon dreissigjährigen See-Burgtheaters wird sich in der Regie von Max Merker turbulent verwechselt und verkannt. «Was ihr wollt», Shakespeares romantische Komödie um unerfülltes Liebesbegehren und Wirrwarr der Identitäten, gleitet elegant und erfrischend zum erlösenden Finale.

Hitzige Sehnsucht nach Liebschaften scheucht die Landeskinder des fiktiven Eilands Illyrien ausgiebig auf. Wo die Charaktere von Shakespeares vorzüglicher Komödie «Was ihr wollt» mitunter zu handfesten Katzbalgern werden, dürfen sie sich in der knappen Textfassung des See-Burgtheaters vom mehrheitlich unberührten Kern der literarischen Vorlage umgarnt und umsorgt wissen. Wort und Musik werden zu schmissigen und idealisierenden Umsetzungen und kontinuierlich zu allseits zugutekommenden Interpretationen.

Dass die, die hier über zwei Stunden hinweg ihrer grossen Liebe nachrennen, chronisch auf Granit beissen, ist Allgemeinwissen. Zur Rekapitulation: Cesario (Sofia Elena Borsani), eigentlich eine Frau namens Viola, fixiert sich auf den Herzog Orsino (Giuseppe Spina), der seinerseits die Gräfin Olivia (Jeanne Devos) anbetet, die wiederum Cesario zugetan ist. Viola, anfänglich einem Schiffbruch entkommen, geht davon aus, ihren Zwillingsbruder Sebastian (Samuel David Braun) dabei verloren zu haben. Mit dessen Erscheinen renkt sich zu guter Letzt alles ein.

Orsino (Giuseppe Spina), Herzog von Illyrien, instruiert die als Knabe Cesario verkleidete Viola (Sofia Elena Borsani), wie seine Liebesbotschaften zu überbringen sind. | Bild: Mario Gaccioli


Bolerohafte Zuspitzung

Schwarzkomödiantisch moderat dreht sich das Shakespeare’sche Turbinenrad und wird über den Abend hinweg zusehends impulsiver. Am Kreuzlinger Seeufer zahlt sich aus, dass für einmal wieder inszenatorische Ausgewogenheit Oberwasser gewinnt. Während es in Liebesdingen drunter und drüber geht, macht sich der Eindruck wohlüberlegter Regie breit. Behaglichkeit legt sich über die Irrungen und Wirrungen des Plots, überflügelt von bolerohaft gesteigerter Eskalierung. Das weiss die Regie durchzuhalten, über die heranbrechende Theaternacht bis hin zum Stückausklang.

Dem Gallionsduo des See-Burgtheaters darf man also bescheinigen, ein gutes Händchen mit der Wahl des Gastregisseurs Max Merker gehabt zu haben. Leopold Huber und Astrid Keller knüpfen qualitativ an Zeiten an, wo sie selber noch an vorderster Front viel Gelungenes hervorzauberten. Im Unterschied zur trashigen Ballermann-Fasson der letztjährigen Produktion, die ja durchaus auch Gefallen gefunden hatte, lässt sich heuer konstatieren: Wem der Geschmack nach Unterhaltung mustergültigerer Art steht, der wird nachhaltig beschenkt.

Cesario alias Viola richtet der trauernden Gräfin Olivia (Jeanne Devos, links) nebst ihrer Zofe Maria (Maria Lisa Huber) die Liebesbekenntnisse Orsinos aus. | Bild: Mario Gaccioli


Ausgereifte Ästhetik

Weitestgehend reduziert bindet sich das Bühnenbild (Damian Hitz) in die schöne Uferumgebung ein. In einer Mischung aus Landungssteg und Spielfläche, in grossen Lettern überschrieben mit «Illyria», bieten die schlichten Aufbauten optimale Transparenz. Flankiert von zwei gebogenen Stegen und über eine Mitteltreppe gut erreichbar, lässt sich die Hauptplattform bestens bespielen. Die auch sonst noch bekletterbare Holzkonstruktion über dem Seeufer lenkt das Auge durchweg auf die Darstellenden. Über wenige Andeutungen (etwa Sturmglocke und Rettungsringe) ergänzt die Phantasie den Schauplatz zum jeweils passenden Setting.

Kostüm (Beate Fassnacht) und Requisiten gehen ähnlich sparsam und detailverliebt vor. Die roten Schuhe des Orsino, Sir Andrew Bleichenwangs farbig abgestimmte Schuhbänder, eine in grüne Anglerkluft gesteckte Rüpelgarde, roter Fahrradhelm, Reptilienkopf an der Trommel, blaues Kraftrad, Olivias violette Söckchen, grosses und kleines rotes Plüschkissen in Herzform. Et cetera. Mit ausgewählten Akzenten in mehrheitlich goldgelb ausgeleuchteten Szenerien und über ausgewogen verstärkte Stimmqualitäten (Marco Scandola, Licht und Ton) wird konzentrierte Ohren- und Augenweide kreiert. Im Handumdrehen wird Pointierung zum Pars pro Toto.

Es zeugt von feinsinniger Ästhetik, Sir Toby Rülps saufboldartige Beleibtheit mit wechselnd grobkarierten Stoffen zu umspielen und später ein kaum wahrnehmbares Blüten-Spitzenband am hochgeschlossenen weissen Kleid der Gräfin angebracht zu haben. So darf sich der Hunger nach eigensinnigen Begierden, der hier von Optik und Outfit heruntergespielt wird, in den ebenso kunstreich aufgeblätterten eigentlichen Inhalten offenbaren.

Über einen gefälschten Brief der Gräfin an ihren Verwalter Malvolio (Maximilian Kraus) soll dieser glauben gemacht werden, sie habe ein Auge auf ihn geworfen, was zu der berühmten Szene mit den gelben Strümpfen samt überkreuzten Strumpfbändern führt. Im Hintergrund Olivias Dienerin Maria und ihr Onkel Tobias Rülp (Franz Josef Strohmeier). | Bild: János Stefan Buchwardt


Beherrschte Funkenschläge

Stellenweise dürften die Tonlagen im Reigen des Vergeblichen akzentuiertere Ausschläge hin zu Sehnsucht, Ausgeliefertsein und Desillusion erfahren. Gerade beim aneinander vorbeizielenden liebeskranken Paar Olivia und Orsino wie auch bei Sebastian rufen die wechselnden Gemütszustände nach einer Portion mehr Offenbarung. Der Sache tun die wenigen unerfüllten Erwartungen herzergreifenden Agierens, so auch bei der Figur des Sebastian, keinen Abbruch. Eine farbenreiche schauspielerische Gesamtleistung ist allemal am Werk, bis hin zu den kleinsten Rollen des Abends, nämlich die des Antonio und Kapitäns, beide gespielt von Raphael Tschudi.

Die berufsverpflichtenden Funkenschläge sprühen, wie so oft, bei der dankbareren Abteilung der narrenhaften Gilde. Das in Freud und Leid für sich einnehmende Verwalterherz Malvolios (Maximilian Kraus), eine köstlich kaltschnäuzige und intrigante Maria (Maria Lisa Huber als Olivias Dienerin). Dann die weitere komische Garde, gerade auch der draufgängerische Toby Rülp (Franz Josef Strohmeier), Bleichenwang (Florian Steiner) als Ritter der traurigen Gestalt und der Narr Feste (Andrej Reimann). Sie alle zelebrieren Wortwitz und Situationskomik, wie viele es sich wünschen und sehen wollen. Dem satzungsgemässen Ansinnen des See-Burgtheaters, Zuschauerschaften verschiedenster Couleur erobern zu wollen, aber auch der Shakespeare’schen Manier an sich kommt das gut Kalkulierte und Einstudierte in jedem Fall geschmackvoll nahe.

Slapstick wird bemüht und zündet. Zu sehen, von rechts nach links, sind der Ritter Toby Rülp, Cesario/Viola und der Junker Andrew Bleichenwang. | Bild: János Stefan Buchwardt


Wundersame Momente

Zu Recht wird dem sich der Modernität und Historie verpflichtenden Musiker an der Elektrogitarre ein prominent einsehbares Podest eingeräumt. In diesem für Sandro Corbat eingerichteten offenen Turmbau wird die musikalische Note abwechselnd vehement und sensibel ausgespielt. Ironische Kontrapunkte und gelungen melancholische Untermalungen setzen das Gefühlsraunen der Liebeskummer-Komödie gebührlich frei.

Am Ende kulminiert die Handlung in einem visuell eindrücklichen Moment: das mondähnliche Aufgehen eines weissen Luftballons, der sich in grossen Ausmassen in den Nachthimmel integriert. Eine magische Anmahnung der Schönheit des Universalen und der Akzeptanz des Fatalistischen? Wo Romantik lodernd weiss aufflammt, vereinen sich die Paare zu Lebens-, vielleicht sogar Wertegemeinschaften.

Unabhängig von aller Gender- und Liebesproblematik ballen sie sich zusammen. In friedvoller Verschlungenheit schwanken sie, ineinander verschweisst, als getriebener Sternhaufen über die am Premierenabend unaufhörlich regennassen Bretter am See. Ein wohlklingendes und versöhnliches Ende für den altbackenen Theatergourmet wie für den Heranreifenden mit feinem Gaumen.

Wo es den Zäsuren der Rede Zeit einräumt, gibt das Ensemble mehr als eine Ahnung davon, wie viel Komik und Tiefgründigkeit es zu entdecken gilt. | Bild: János Stefan Buchwardt


Narretei und Schmerz

Ein Gesamtergebnis also, das flüchtigen Gelüsten einer Spassgesellschaft erfolgreich trotzt und so Raum für eindringlichere Wechselwirkungen zwischen Tribünensitz und Bühnenbrett eröffnet. Der Befund, Abgründigkeit und Tragik der Vorlage einkalkuliert zu haben, hebt offenkundig die allgemeine Befindlichkeit. Dass Merker es schafft, sich nicht im Schnellschuss-Boulevard-Stil zu verlieren, erlaubt ihm, auch mit begrüssenswerter Zotigkeit aufzuwarten. Sein Inszenierungsstil ermöglicht es, eine Kernkompetenz des Schauspiels und der Schauspielerei neu aufzuspüren: nämlich über Wohlverfugtes zu Hocherhellendem zu führen.

Das Kunststück ist gelungen. Nicht nur das Premierenpublikum schien sich einig. Und mit herzlich applaudierendem Ja bestätigte man noch so gern, dass ein Shakespeare Fuss fasst, wie es der grosse Dramatiker selber im Sinn gehabt haben mag. Ja, der Duktus der Aufführung setzt Lust am Spiel frei, an einem mit allen Sinnen Beteiligtwerden auf der Suche nach Identität. Der Grandiosität eines Genies wird zweifelsfrei ein Dienst erwiesen, gerade auch weil neben Klamauk und Humor das kippende Gefühl ausgehoben wird. Dass das ohne übermässiges Forcieren gelingt, ist rundum erfreulich.

Weitere Aufführungen bis 14. August auf der Seebühne im Seeburgpark Kreuzlingen. Alle Termine bei uns in der Agenda. Infos zum Ticketverkauf: www.see-burgtheater.ch

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