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Wege zum Wiederaufbau

Wege zum Wiederaufbau
Harte Arbeit: Eine neue Studie zeigt, wie schwer die Kultur- und Kreativwirtschaft von der Coronakrise getroffen wurde und welche Wege aus der Krise herausführen könnten. | © Michael Lünstroth

Eine neue, europaweite Studie zeigt wie mächtig die Kultur- und Kreativwirtschaft sein könnte, wie hart die Branche von der Pandemie getroffen wurde und wie man ihr jetzt helfen sollte. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

In den vergangenen Monaten musste die Kultur- und Kreativindustrie einiges ertragen. Nicht nur, das vor allem weiten Teilen der Kultur- und Veranstaltungsbranche pandemiebedingt auferlegte Quasi-Arbeitsverbot, auch die politische und gesellschaftliche Missachtung, die die Branche in den Freizeitbereich, irgendwo zwischen Bordellen und Vergnügungsparks, einordnete, war eine Kränkung, die viele AkteurInnen so schnell nicht vergessen werden.

Eine neue Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young (EY) im Auftrag der European Grouping of Societies of Authors and Composers (GESAC) rückt einige Verhältnisse jetzt zurecht.

Die GESAC umfasst 32 Verwertungsgesellschaften aus ganz Europa, die mehr als eine Million UrheberInnen und RechteinhaberInnen vertreten - von Musik- und Literaturschaffenden über bildende Kunstschaffende bis hin zu Filmregie und vielen weiteren Kreativschaffenden.

Aus der Studie von EY.

Machtfaktor: 7,6 Millionen arbeiten in der Kultur- und Kreativwirtschaft

Ziel der Studie „Rebuilding Europe“ (mehr zur Datenbasis der Untersuchung am Ende des Textes) war es, herauszufinden, welche wirtschaftliche Bedeutung die Kultur- und Kreativindustrie in Europa vor der Pandemie hatte, wie hart die Branche von Corona getroffen wurde und welche Massnahmen nun eigentlich ergriffen werden müssten, um dem Wirtschaftszweig wieder auf die Beine zu helfen.

Die Zahlen sind beeindruckend: 7,6 Millionen Menschen waren Ende 2019 in der Kreativ- und Kulturindustrie (hierzu zählt die Studie 10 Bereiche: Werbung, Architektur, Audiovisuelle Inhalte, Bücher, Musik, Zeitungen & Zeitschriften, Darstellende Kunst, Radio, Videospiele, Bildende Kunst) beschäftigt.

Seit 2013 sind in der Branche 700’000 neue Jobs entstanden, der Gesamtumsatz lag 2019 bei 643 Milliarden Euro. Die gesamte Wertschöpfung der Kreativindustrie hatte demnach mit 253 Milliarden Euro 2019 einen grösseren Anteil am Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union als jener der Telekommunikations-, Pharma- oder Automobilindustrie.

Umsatzminus von 90 Prozent: Die Bühnenkünste traf es am härtesten

Dann kam Corona. Und die Umsätze brachen in der Kultur- und Kreativwirtschaft um 31 Prozent ein - auf 444 Milliarden Euro. Nur die Luftfahrtindustrie war 2020 etwas stärker betroffen. Die EY-Studie offenbart zudem, welche Sparten besonders leiden müssen: Bei Theater, Film und Bühnenkunst sank der Umsatz um 90 Prozent, in der Musik um 76 Prozent. Lediglich die Videospielindustrie konnte sich behaupten und machte 2020 ein Umsatz-Plus von 9 Prozent.

Die Studie macht klar, dass dieser dramatische Einsturz langfristige Folgen haben wird. Selbst grosse Museen wie das Rembrandtmuseum Amsterdam rechnen damit, dass sie erst 2024 wieder an die Besucherzahlen von vor der Krise anknüpfen können.

Anderen Häusern geht es ganz an den Kragen: Eine UNESCO-Studie geht davon aus, dass weltweit jedes achte Museum nach der Krise nie wieder öffnen wird, in Frankreich befürchten Experten, dass ein Drittel aller Galerien des Landes auch nach Überwindung der Pandemie für immer geschlossen bleiben wird.

Erschreckende Zahlen: Die EY-Studie zeigt das Ausmass der Coronakrise in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Grafik: EY

Die Krise zwingt MusikerInnen zur Aufgabe ihres Jobs

Und letztlich sind es auch ganz individuelle Konsequenzen, die aus dem Drama folgen: In Grossbritannien denken laut einer in der Studie zitierten Befragung 34 Prozent der MusikerInnen darüber nach ihre Künstlerkarrieren aufgrund den Folgen der Pandemie zu beenden, weil sie es sich nicht mehr leisten können.

In den Niederlanden schätzen Gewerkschaften, dass 40 Prozent der Menschen, die bislang im Live-Veranstaltungs-Sektor aktiv waren nun einen neuen Job jenseits der Kultur- und Kreativindustrie suchen. Dieser personelle Aderlass wird die Branche wohl noch lange beschäftigen.

Drei Schritte auf dem Weg aus der Krise

Um aus dieser Krise wieder herauszukommen, schlagen die Studien-AutorInnen drei Schritte vor. Erstens: „Öffentliche Mittel müssen in erheblichem Umfang bereitgestellt und private Investitionen in kulturelle und kreative Unternehmen, Organisationen und Kreative gefördert werden.“

Zweitens: „Förderung des vielfältigen kulturellen Angebots der EU durch Gewährleistung eines soliden Rechtsrahmens, der private Investitionen in Produktion und Vertrieb ermöglicht und vorantreibt, die notwendigen Voraussetzungen für unternehmerische Renditen bietet und für die Kreativschaffenden angemessene Einnahmen gewährleistet.“

Kreativwirtschaft als Beschleuniger des Wandels

Der dritte Schritt ist irgendwas zwischen Appell und Hoffnung. Die Politik möge sich doch endlich der Bedeutung des Sektors bewusst werden und die Chancen in der Rettung dieses Bereiches erkennen: „Die Kultur- und Kreativwirtschaft - und die multiplizierte Macht ihrer Millionen individueller und kollektiver Talente - kann ein Beschleuniger für soziale, gesellschaftliche und ökologische Veränderungen in Europa sein.“

Ob man da so zuversichtlich sein sollte, ist allerdings fraglich: In den vergangenen Jahren haben andere Wirtschaftszweige eher die negativen Dinge aus dem Kultursektor kopiert: Zum Beispiel die prekären und temporären Anstellungsverhältnisse.

Aber wer weiss? Vielleicht tragen die Erfahrungen der Corona-Krise am Ende doch dazu bei, den neoliberalen Geist, wieder in seine Flasche zu verbannen. Dann hätte die Krise zumindest ein Gutes gehabt.

Download der Studie: Die gesamte Studie ist öffentlich und kann hier heruntergeladen werden. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse auf deutsch, gibt es hier. Das Projekt hat auch eine eigene Website: https://www.rebuilding-europe.eu/

 

Die Lage in der Schweiz

Die Studie von EY bezieht sich auf die Europäische Union und Grossbritannien. Zahlen aus der Schweiz flossen nicht in die Analyse an. Zur Lage in der Schweiz hat die verbandsübergreifende Taskforce Culture Mitte Januar eine Übersicht gegeben. Damals forderten sie in der Corona-Krise schweizweit einheitliche Regelungen und eine klare Vereinfachung der unübersichtlichen Unterstützungsmassnahmen.

 

In ihrem Schreiben erinnern die InitiatorInnen auch nochmal an die Dimension des Kultursektors: „Seit rund 11 Monaten unterliegt die Kultur-und Veranstaltungsbranche einem eigentlichen Arbeitsverbot. Davon sind rund 270'000 Kulturschaffende und rund 63'000 Kulturunternehmen betroffen.“

 

Die Datenbasis der Studie

Für die Studie hat Ernst & Young 25 Interviews geführt und zwei Workshops durchgeführt mit TeilnehmerInnen aus den 10 für die Studie relevanten Sektoren der Kultur- und Kreativwirtschaft: Werbung• Architektur• Audiovisuelle Inhalte• Bücher• Musik• Zeitungen und Zeitschriften• Darstellende Kunst• Radio• Videospiele• Bildende Kunst.

 

Dabei wurden Fragen gestellt wie: „Wie war ihre wirtschaftliche Situation vor der COVID-19-Krise? Welche Auswirkungen hat die Krise auf Wirtschaftstätigkeit und Beschäftigung gehabt? Was sind die Prioritäten der Kultur- und Kreativwirtschaft, um sich vor den schlimmsten Folgen zu schützen, das Wachstum wieder in Schwung zu bringen und ihren Wert für die europäische Wirtschaft zu steigern?“

 

Daneben haben die AutorInnen der Studie aber auch auf bestehendes Datenmaterial zurückgegriffen, unter anderem von Eurostat Structural Business Statistics, Eurostat Labor Force Survey, IFPI Global Music Report 2020 und weitere nationale Statistikerhebungen. Alle Quellen sind in der ausführlichen Version der Studie angegeben. Die gesamte Studie findet sich hier.

 

 

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