von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 22.05.2019
Das Recht auf Kunst
Die Vergabefeier der Förderbeiträge des Kantons Thurgau im Theaterhaus in Weinfelden hatte drei sehr schöne Momente. Sie zeigte aber auch, wie schnell man zeitgenössische Kunst missverstehen kann.
Preisverleihungsfeiern haben in der Regel drei Funktionen: Erstens, natürlich, die Würdigung der Preisträgerinnen und Preisträger. Zweitens einen Austausch über das, was Kunst heute eigentlich soll und drittens auch so etwas wie eine Selbstvergewisserung der Kunstszene zur eigenen Bedeutung für die Gesellschaft. Da machte auch die Vergabefeier der Förderbeiträge des Kantons Thurgau am Dienstagabend im Weinfelder Theaterhaus Thurgau keine Ausnahme.
Aus 61 Bewerbungen hatte die Jury fünf Künstlerinnen und Künstler ausgewählt: Usama Al Shahmani (Autor, Frauenfeld), Samir Böhringer (Musiker, Lengwill), Johannes Keller (Musiker, Basel), Alex Meszmer / Reto Müller (bildende Künstler, Pfyn) und Rahel Wohlgensinger (Theaterschaffende, Kreuzlingen). Zudem erhielten Rhona Mühlebach und Reto Müller den Zuschlag für das gemeinsam von Kulturstiftung und Kulturamt vergebene Atelierspendium in New York City. Beide verbringen in diesem Jahr nacheinander jeweils drei Monate dort. Dazu passte der lässig-jazzclubbige New-York-Sound, den die Band The Sad Pumpkins an diesem Abend immer mal wieder auf die Bühne zauberte. Der kam nicht von ungefähr: Bandleader Niculin Janett verbrachte 2015 drei Monate in eben jenem Atelier in New York. Für thurgaukultur.ch schrieb er damals übrigens einen Blog von dort.
Künstler arbeiten heute immer noch oft in prekären Verhältnissen
Der Abend in Weinfelden hatte drei besondere Momente, die die These mit den drei immer wiederkehrenden Elementen auf Preisverleihungsfeiern unterstrich. Der erste war jener, als Alex Meszmer vom Künstler-Duo Meszmer/Müller nach der Preisvergabe zum Mikrofon griff und die Gelegenheit nutzte, sich einerseits für den Preis zu bedanken, aber auch auf die teilweise prekäre Lebenssituation von Künstlerinnen und Künstlern hinzuweisen: „Auch in der Schweiz sind wir nicht auf Rosen gebettet, solche Preise helfen uns dabei, dass wir weiterarbeiten können“, sagte Meszmer, der lange auch als Kulturfunktionär im Berufsverband Visarte für eine bessere Bezahlung von Künstlern kämpfte. Sein Statement deckte den Teil mit der Selbstvergewisserung der Szene ab.
Über die Bedeutung von Kunst in der Gesellschaft und das, was Kunst heute eigentlich soll, sprach dann sehr deutlich und klar die Schauspielern Anja Tobler in ihrer Laudatio (mehr zu den anderen Laudationes am Ende des Textes) auf die Puppenspielerin Rahel Wohlgensinger: „Wozu brauchen Kleinkinder Kunst? Könnte man sich nun fragen. Die Antwort ist ganz einfach: weil gute Kunst jeder braucht. Und weil alle ein Recht auf Kunst haben.“ Viel pointierter und schöner kann man das kaum formulieren.
Regierungsrätin überrascht mit einem bodenständigen Kunstverständnis
Der dritte Moment in dieser Reihe gehörte Regierungsrätin Monika Knill. Offen bekannte sie, dass sie mit zeitgenössischer Kunst manchmal wenig anfangen könne: „Die Begegnung mit zeitgenössischer Kunst - aber auch mit zeitgenössischer Musik, mit heutigem Tanz oder aktueller Literatur lässt mich hin und wieder ratlos zurück.“ Solche Bekenntnisse sind auf Kultur-Preisverleihungen eher selten und man kann vermuten, dass dies bei einigen Kulturschaffenden im Publikum für inneres Seufzen und intensives Augenrollen gesorgt haben könnte. Eine eher bodenständige, nach Verständnis und Sinn suchende, Herangehensweise an zeitgenössische Kunst gilt in manchen Kreisen als verpönt.
Nun ja. Wer sich da schon pikiert innerlich abwendete, verpasste am Ende den Argumentations.-Dreh, den die Regierungsrätin danach vollzog. Am Beispiel von Joëlle Allets Skulpturen-Ensemble „Eine fabelhafte Regierung“ vor dem Frauenfelder Regierungsgebäude erklärte sie, worin sie eine Stärke zeitgenössischer Kunst sieht: „Zeitgenössische Kunst stellt mehr Fragen als sie Antworten gibt. Zeitgenössische Kunst stellt Werte der Gesellschaft nicht modellhaft dar, sondern sie stellt diese Werte zur Diskussion - für manche provozierend, für manche irritierend. Zeitgenössische Kunst will nicht mehr nur schön sein, sondern sie versucht, uns die Augen zu öffnen.“
Am Ende schliesst sich der Kreis sehr schön
Spätestens da waren dann auch wieder all jene im Boot, die zuvor mit den Augen rollten. Was einmal mehr zeigte: Wer sich zu schnell empört und nicht mehr richtig zuhört oder hinsieht, verpasst das grosse Ganze. Das, und da schliesst sich der Kreis dann wieder ganz schön, gilt für Preisverleihungs-Reden, ebenso wie den Umgang mit zeitgenössischer Kunst ganz allgemein.
Aus den Laudationes
Regula Walser über den Schriftsteller Usama Al Shahmani
„Der Autor geht mit seinen Themen souverän um. Einerseits erzählt er nüchtern und sachlich, in beklemmend anmutenden Szenen von traumatischen Erlebnissen, andererseits gestaltet er eine wunderbar poetische Sprache, in der die bildhafte und sprachliche Intensität seiner arabischen Muttersprache zu hören ist.“
„Die Jury ist überzeugt, dass sich Usama Al Shahmani, der es so eindrücklich versteht, mittels Sprache unterschiedliche Stimmlagen und Atmosphären zu erzeugen, auch bei diesem zweiten Romanprojekt als kluger und differenzierter Erzähler erweisen wird.“
Florian Keller über den Schlagzeuger Samir Böhringer
„Seine verspielte, doch stets hochpräzise Kunst mit Trommeln und Becken bewegt sich in einem weit ausladenden Kosmos, in dem Improvisatorischer Furor und kompositorische Strenge, Kalkül und Freiheit aufeinander treffen.“
„In welcher Formation auch immer: Man erkennt in Böhringers Spiel das Gespür und Sensibilität für das, was die Musik rhythmisch im Moment braucht um einen gemeinsamen Klangkörper anzutreiben.“
Anja Bühnemann über den Cembalisten Johannes Keller
„Johannes Keller legte früh eine Virtuosität und Neugierde an den Tag, die ihn bald nicht nur aus dem Gros der Cembalisten hervorstechen, sondern ihn auch - hierin einer barocken Tradition folgend - nach ungewöhnlichen klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten suchen liessen.“
"Allein der grossartige Leistungsausweis von Johannes Keller, der seine Vielseitigkeit in der Vergangenheit immer wieder eindrucksvoll und auch erfolgreich unter Beweis gestellt hat, liessen uns darauf neugierig werden, wie er diese neue Herausforderung meistern wird.“
Judit Villiger über die bildenden Künstler Alex Meszmer und Reto Müller
„Wie wird Geschichte gemacht? Wer macht Geschichte? Und was wird von uns und unserer Kultur übrig bleiben? Dies sind die drei Grundfragen, die das Werk des Duos Alex Meszmer/Reto Müller seit ihrer Gründung im Jahr 2005 begleiten. Was sie interessiert sind Wirklichkeitsverschiebungen, Irritationen.“
„Meszmer/Müller sind fasziniert von der Archäologie als einer wissenschaftlichen Disziplin, die sich in vielfältiger Weise entwickelt hat, indem sie Mehrperspektivität in ihre Auslegung integriert und sich dafür interessiert, was das gesellschaftliche Individuum bewegt. In der Entwicklung von Fund zu Befund, von Objekt zu Kontext findet dieser Prozess heute mehr und mehr auch in der aktuellen Kunst statt.“
Anja Tobler über die Puppenspielerin Rahel Wohlgensinger
„Rahel Wohlgensinger, Puppenspielerin und Theatermacherin aus Kreuzlingen, geht ein Wagnis ein. Sie stellt sich dem ehrlichsten und gnadenlosesten Publikum der Welt: kleinen Kindern. Und das ist bewundernswert. Denn nichts, worauf man sich als Darstellerin normalerweise verlässt, ist sicher.“
„Wohlgensingers Ansatz ist poetisch und musikalisch. Mit minimalen Mitteln entsteht maximale Wirkung. Man nehme Mehl und Wasser, dazu Musik und Licht. Was mit wenigen, einfachen Zutaten alles entstehen kann, ist erstaunlich. Und zwar nicht nur für die Kinder, sondern auch für ihre Eltern.“
Martha Monstein über die Videokünstlerin Rhona Mühlebach
„Rhona Mühlebach ist eine genaue Beobachterin des Alltäglichen und es sind alltägliche Beziehungen zu Menschen, Tieren, Objekten und Orten, die als Auslöser für ihre künstlerische Arbeit fungieren. Unspektakuläre Begebenheiten werden analysiert, auf ihren emotionellen Reiz untersucht und in Beziehung zu sich selbst gesetzt.“
„Fiktion sei eine Art und Weise, die Realität zu betrachten. Es sei nicht nur ein passives, sondern ein aktives Zuschauen der Realität, denn Fiktion öffne den Raum für neue Gedanken - Raum für andere mögliche Realitäten.“
Gioia Dal Molin über den bildenden Künstler Reto Müller
„Er ist unterwegs in verschiedenen Tätigkeiten und mit verschiedenen Materialien und Medien. Sich selbst als Bildhauer und Filmemacher bezeichnend, hat er auch eine vermittelnde, kuratorische Praxis und beispielsweise einen Kunstraum in Lausanne mitbetrieben.“
„Das Unterwegssein im weitesten Sinne ist auch Bestandteil einer künstlerischen Praxis. Reto Müller interessiert sich für die Veränderungs- und Umformungsprozesse von Materialien.“
Die Förderbeiträge und die Serie
Einmal im Jahr vergibt der Kanton Thurgau persönliche Förderbeiträge an Kulturschaffende aus dem Thurgau. In diesem Jahr gehen die mit jeweils 25.000 Franken dotierten Beiträge an fünf verschiedene Künstlerinnen und Künstler. Die Förderbeiträge wurden von einer Jury vergeben, welche sich aus den Fachreferentinnen und -referenten des Kulturamts und externen Fachpersonen zusammensetzt.
Die Serie: Alle ausgezeichneten Künstlerinnen und Künstler stellen wir in einer Porträt-Serie vor. Bereits erschienen sind:
(1) «Ich bin im Herzen ein Theatermensch»: Usama Al Shahmani im Porträt
(2) Auf der Suche nach dem eigenen Stil: Samir Böhringer im Porträt
(3) Auf dem Weg zum Cyber-Barock: Johannes Keller im Porträt
(4) Eigentlich ist sie sehr viel: Rahel Wohlgensinger im Porträt
(5) Die Gegenwarts-Archäologen: Das Künstler-Duo Meszmer/Müller
Anders als in den vergangenen Jahren werden 2019 nur 5 statt 6 Förderbeiträge vergeben. Das liegt daran, dass in diesem Jahr auch das Atelierstipendium in New York City vergeben wurde. Es geht an Rhona Mühlebach und Reto Müller.
Themendossier: Mehr zu den Förderbeiträgen und früheren Gewinnerinnen und Gewinnern können Sie in unserem Dossier zum Thema nachlesen
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