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von János Stefan Buchwardt, 19.07.2022

Essen ist Liebe

Essen ist Liebe
Eigens für ihre Passion des Kochens zieht die Kunstfotografin Thi My Lien Nguyen – im Bild hinter einem Stachelbeerstrauch – auf ihrem Balkon zum Hinterhof Zutaten wie Perilla, Koriander, Sauerampfer oder Kaffirlimettenblätter heran. | © János Stefan Buchwardt

Forscherin zwischen Heimat und Tradition. Die Fotokünstlerin Thi My Lien Nguyen erhält in diesem Jahr einen der Kultur-Förderbeiträge des Kantons. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Nun hat auch Thi My Lien Nguyen Mitte Juni einen Thurgauer Förderpreis entgegennehmen dürfen. Film, Musik, bildende Kunst, Illustration und Autorentum wurden berücksichtigt, drei Männer, drei Frauen bedacht – in allen Ehren. Solche Ausgewogenheit ist auch Wesensmerkmal der jungen Fotokünstlerin. Ein verständiger Charakter und Offenherzigkeit sprechen dafür, dass sie die stolzen 25’000 Franken gewinnbringend einzusetzen vermag.

Ein bisschen Recherche über die 27-jährige Schweizerin mit vietnamesischen Wurzeln und man wird fündig: Tagblatt, NZZ, Annabelle, nicht zuletzt hier auf Thurgaukultur. Was sie so einnehmend macht? Nguyen paart Herzenswärme mit Klugheit, Fremdländisches mit Einheimischem. Das ist exemplarische Rezeptur für eine empfängliche Moderne und in ihrem Fall auch unaufdringlich stattfindende Authentizität.

Heimatliche Zuwendung

Mit den ihren Lebensweg prägenden Orten, sagt Nguyen, habe sie regen Austausch: Winterthur, Appenzell, St. Gallen. Bislang zeigte der Thurgau wenig Interesse an ihrem fotografischen Werk. Über die jetzige Geste aus dem Kulturamt ist eine konstruktivere Beziehung zum Landstrich ihrer Kindheit und Jugend wahrscheinlich. Es sei noch nicht lange her, da habe sich etwa ein Kontakt zum Kulturbeauftragten von Amriswil ergeben.

In diesem Städtchen – mit grünem Baum und roten Äpfeln im Wappen – ist sie aufgewachsen. Da sie nicht mehr dort wohne, bedeute ihr die «heimatliche» Zuwendung viel. «Man schenkt mir Freiheit und Bestätigung für das, was ich mache», sagt sie dankbar. Wer nicht einfach nur auf den Karren des Zeitgeschmacks aufspringt, sondern wie sie Fragenkomplexe nach Migration und Inklusion grundehrlich auftischt, dessen Tun hat mehr als Interesse verdient.

 

Im Kulturort «Coalmine» in Winterthur zeigt Thi My Lien Nguyen auf grossformatigen Fotografien die Wichtigkeit zelebrierten Beisammenseins – am Esstisch in Winterthur (oben) oder im Norden Vietnams im Herkunftsort ihrer Familie. | Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Aufklärerisches Gedankengut

Die Relevanz ihres Werkes speist sich nicht zuletzt aus ihrem Werdegang. Von zu Hause her ist sie explizit in keine Ostschweizer Kultur hineingewachsen. Nach dem Vietnamkrieg waren die Grosseltern ins appenzell-innerrhodische Dorf Steinegg geflohen. «Natürlich brauchen Migrationsfamilien Mut, um ins Ungewohnte einzutauchen. Man fühlt sich klein, man trägt womöglich Traumata mit sich», umreisst sie die Problematik.

Amriswil sei zwar ihr Zuhause gewesen, den kulturellen Zugang musste sie sich aber eigeninitiativ erobern. Schon als Kind habe sie alles in sich aufgesogen: Musik, Theater, Sport. «Der Thurgau bietet keine gestalterische Ausbildung an, schliesslich habe ich in Luzern ‹Camera Arts› studiert», rapportiert Nguyen. Ausbuchstabiert: post-fotografische Medien und visuelle Strategien im Kontext von Kunst, Design und Gesellschaft.

Show, don’t tell

Als Fotografin für die Thurgauer Zeitung verschaffte sie sich Einblick in ihr bis dahin fremde Lebenskreise. «Dieses halbe Jahr war krass. Ich habe mir vieles über meinen Heimatkanton erschlossen», beschreibt sie die damalige Situation. Ein Volontariat im redaktionellen Videoteam der NZZ folgte. Aktuell wechselt Nguyen bald einmal vom «Visual Storytelling» an der Hochschule Luzern im Departement «Design und Kunst» zur freischaffenden Foto- und Videografin.

Einerseits also die Zuständigkeit für visuelle Belange, interne und externe Kommunikation wie auch konzeptuelle Arbeiten für Video- und Bildformate und Social Media. Andererseits die künstlerische Umsetzung sozialer Anliegen: Einheimischen und anderen Kulturen über das Reflektieren des eigenen Migrationshintergrunds die existenzielle Herausforderung der Identität zu (er)öffnen und so einen gemeineigenen Diskurs herauszufordern.

 

Porträt von Thi My Lien Nguyens jüngerer, auch in der Schweiz aufgewachsenen Cousine Yen Nhung Vanny Vo aus der Serie «ở thụy sĩ» (In der Schweiz) und das Selbstporträt «My Heritage», das sie mit dem Essgeschirr ihrer Grossmutter zeigt. | Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Reis und Gold

Dass Thi My Lien Nguyen sich auf das Aufspüren von Triebkräften und Prozessen innerhalb von Familien sowie (transkulturellen) Gemeinschaften konzentriert, klingt lehrmeisterlich und abstrakt. Was konkret zeigt sie auf ihre unverwechselbar bodenständige und feinsinnige Weise? Aktuell etwa Rituale der Ahnenverehrung, worüber sie künstlerisch-allgemeingültige und beispielgebende Prozesse des Nachahmenwollens animieren möchte.

In der Ausstellung mit dem sinnbildlichen Titel «Three Grains of Rice and Some Gold» berührt sie ihr Publikum über das Verweben eigener Fotografien und bestehender Bilder aus privaten Familienalben. Im Winterthurer Raum für Fotografie, der dem Kulturort «Coalmine» angeschlossen ist, verwachsen die Abbildungen zu Einheiten, die von althergebrachten Familienriten zeugen. Gemeinschaftsanlässe zum Feiern oder Trauern werden zur geteilten migrantischen Erfahrung umformuliert.

Persönliche Spannungsfelder der Orientierung legt Nguyen selbstreferenziell aus, recherchiert und reflektiert dabei über das Flüchtlingswesen, aber auch die freiwillige Aus- respektive Zuwanderung. Beispielhaft hat sie gerade auch die vietnamesische Diaspora im Auge. Den Status des Illustrativen hat das fotografisch Ausgewählte längst überwunden, es wird zum sphärischen Gedankenpool für eine jedem eigene Sozialisation.

 

Im Alltag stattfindende Ahnenverehrung äussert sich in speziellen Ritualszenen, die Thi My Lien Nguyen einem nicht zuletzt über Fotografie näherbringt. Neben Tischgemeinschaften spielen Altäre, die durchaus jenseits des religiösen Glaubens stehen, eine zentrale Rolle beim Trauern und Gedenken. | Bilder: János Stefan Buchwardt

Die kochende Künstlerin

Die Fotografin will mehr erreichen als über ihre Bildgewebe für Fragen nach Ritualverlust und ebensolcher Bedürftigkeit zu sensibilisieren. Wo sie Erlebnisräume für bewusst gelebte Umgangsformen und Brauchtum eröffnet, wird sie selbst zur Gastgeberin und Köchin. Wieder wird umgemünzt, was Familientraditionen hergeben. So sind gemeinsam eingenommene Mahlzeiten konzeptuell in ihre Arbeiten eingebunden und werden zum vermittelnden sozialen Akt.

Nguyen stösst einen Dialog der Kulturen an, indem sie Menschen konkret bekocht. Damit hat sie ein Medium für sich spezifiziert, welches in der Kunst keineswegs unbekannt ist. Einen vorbildlichen Zeitgenossen sieht sie etwa im weltweit renommierten Thailänder Rirkrit Tiravanija, der in den 1990er Jahren darüber bekannt wurde, dass er in einem «mobile home» thailändische Gerichte zubereitete und in Galerien und Museen servierte.

Genugtuung in der Verbundenheit

Einen Monat vor dem ersten Corona-Lockdown entwickelte Nguyen die Idee, ortsungebunden für bekannte und ihr auch unbekannte Leute sporadisch zu kochen. Das Projekt «Mili’s Supperclub» war geboren, über das sie ihre Gäste mit Speisen und Bräuchen vietnamesischer Esskultur bekannt macht. So demonstriert sie nicht nur die Wichtigkeit des Essens in asiatischen Lebenszusammenhängen, sondern bietet Gelegenheit, ihre Themenfelder im direkten Austausch zu erörtern.

«Die Traditionen der Kulturkreise will ich keinesfalls gegeneinander ausspielen», hält sie fest. Verglichen mit hiesigen Gewohnheiten könne Essen aber einen fundamentalen Stellenwert haben. Es gälte, sich solche verloren gegangenen Bezüge wieder ins Leben zu rufen. Geschälte und geschnittene Früchte beispielsweise können symbolisch für Liebe und Fürsorge stehen. Essen sei ein Gefühl, erklärt sie. Kann man Elementares schöner ausdrücken?

 

Lachend gibt Thi My Lien Nguyen zu verstehen: «Die Verbundenheit über miteinander geteilte Mahlzeiten laufe nicht nur in der vietnamesischen Kultur immer wieder einmal Gefahr, zur Obsession zu werden.» | Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Aktuelle Ausstellung

Die Ausstellung «Thi My Lien Nguyen – Three Grains of Rice and Some Gold» ist noch bis 24. Juli 2022 in der «Coalmine – Raum für Fotografie» zu sehen. (Volkarthaus, Turnerstrasse 1, 8400 Winterthur)

 

Finissage mit öffentlicher Führung: Samstag, 23. Juli, 18 Uhr

 

Eine Videoarbeit von Thi My Lien Nguyen gibt es hier.

 

Die Porträtserie zu den Förderbeiträgen des Kantons Thurgau

In einer neuen Serie stellen wir alle Gewinner:innen der diesjährigen Förderbeiträge des Kantons vor. Alle Beiträge werden im Themendossier zu den Förderbeiträgen gebündelt. Dort finden sich auch Porträts über frühere Gewinner:innen dieser Förderbeiträge.

 

Die Preisträger:innen 2022 sind: Hannes Brunner, (bildender Künstler, Zürich), Lea Frei, (Autorin und Illustratorin, St. Gallen), Michael Frei, (Filmemacher, Zürich), Sonja Lippuner, (bildende Künstlerin, Basel), Thi My Lien Nguyen, (bildende Künstlerin, Winterthur) und Fabian Ziegler (Musiker, Matzingen). Zu drei der sechs ausgezeichneten Künstler:innen sind in den vergangenen Jahren bereits Porträts erschienen. Diese Texte verlinken wir hier: Sonja Lippuner, Thi My Lien Nguyen und Fabian Ziegler.

 

Einmal im Jahr vergibt der Kanton die mit jeweils 25'000 Franken dotierten Förderbeiträge. Sie werden von einer Jury vergeben, die sich aus den Fachreferentinnen und -referenten des Kulturamts und externen Fachpersonen zusammensetzt. Auch in diesem Jahr sei die Anzahl und Qualität der eingegangenen Bewerbungen hoch gewesen, heisst es in einer Medienmitteilung des Kulturamts. Die Jury habe Künstlerinnen und Künstler aus vier verschiedenen Sparten ausgewählt und damit ein breites künstlerisches Schaffen im Kanton und darüber hinaus gewürdigt, heisst es weiter.

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