von Judith Schuck, 25.10.2022
Beobachtungen aus der Traumfabrik
Die Kreuzlinger Künstlerin Anna Appadoo spielt mit Träumen in der Wirklichkeit. Um der Realität etwas Fantastisches abzugewinnen, reichen oft schon kleine Kniffe. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Ob wir in der Wirklichkeit oder einer Traumwelt wandeln, hängt von der Perspektive ab. Für ein Abdriften in fantastische Vorstellungen reicht es manchmal, die Grösse der Dinge in neue Verhältnisse zu setzen. Steht ein Kind unter einem Riesengewächs haben wir bereits einen Verfremdungseffekt – obwohl alles im Hier und Jetzt stattfindet und wir nicht im Land der Elfen und Zwerge gelandet sind.
Die Kreuzlinger Künstlerin Anna Appadoo liebt es, in Fantasiewelten einzutauchen. Ihre Inspiration schöpft sie aus Alltagsbeobachtungen: beispielsweise ihr Sohn unter dem Blätterdach riesiger Pflanzen. Bei diesem Anblick versetzt sie sich in ihn hinein. Wie ist es, wenn man so klein ist, im Schutz dieser grossen Pflanze zu stehen?
Bei Spaziergängen in der Natur freut sie sich besonders, winzig kleine Dinge zu entdecken oder dann die «aufgeblasenen», überdimensionierten. Das künstlerische Wirken ist für Anna Appadoo wie ein Wandeln in Traumwelten. Momentan mag das damit zusammenhängen, dass die zweifache Mutter häufig nachts arbeitet, wenn ihre Kinder schlafen.
Meerjungfrauen und Wurzelwesen
«Aber schon als Kind stellte ich mir Wunderwelten vor, wie Tiere in Glockenblumen schwimmen oder in Baumwurzeln leben.» Ihre Faszination für die Kunst begleitet sie schon ihr ganzes Leben. Nach dem Kindergarten und später der Schule legte die in Konstanz aufgewachsene Kunstschaffende eine Kassette ein und malte drauf los.
Der Rekorder spielte meist «Die drei Fragezeichen» ab, auf dem Papier entstanden vorzugsweise Meerjungfrauen, Fabelwesen aus der Unterwasserwelt.
Obwohl real, entrückt das andere Element, das Wasser, die Unterwasserwelt der unseren, eine Parallelwelt, gedämpfte Geräusche, wabernde Pflanzen – ähnlich den irdischen Gewächsen, und dennoch anders. Mehr wie im Körperinneren, wo unsere Zellen ebenfalls im feuchten Milieu leben.
Appadoos Werke selbst sind entweder sehr kleinformatig, oder riesengross. Im Wasserturm im Konstanzer Stromeyersdorf zeigte sie gerade anlässlich der Open Art eine Ausstellung zum Thema Irrgarten. Winzige gerahmte Collagen und Assemblagen bestehend aus Fundstücken, Gezeichnetem, Ausgeschnittenem und Koloriertem, in denen einige Elemente an die Psychedelic Art der 1970er erinnern.
Das können die zahlreich spriessenden Pilze sein, die kräftigen, grellen Farben, aber auch organische Konstrukte, die mikroskopischen Schnitte von Körperzellen, Darmzotten, Drüsen ähneln – die Grenzen zwischen Innen und Aussen verschwimmen wie bei einem LSD-Trip.
Ein Leben aus Streichholzschachteln
Streichholzschachteln und Text sind ein wiederkehrendes Element, eine Adaption aus einem vergangenen Projekt, das Anna Appadoo gemeinsam mit der Konstanzer Autorin Veronika Fischer verfolgte: In der Ausstellung «Wilmas Schätze – Wünsche und Träume im Kleinformat» zeigten die beiden das Ergebnis ihrer Kunst-Text-Kooperation. Bei Ebay kauften sie die Streichholzschachtelsammlung einer verstorbenen Dame. Anhand dieser Sammlung versuchten sie ihr Leben, Denken und Fühlen zu rekonstruieren.
«Mein Netzwerk an Künstler:innen, mit denen ich zusammen arbeite, wächst.»
Anna Appadoo
Auch heute arbeitet Appadoo gerne mit Textfragmenten im Bild. Ihre kleinen Collagen-Arbeiten bezeichnet sie als eine Art Tagebuch. «Ich sammle im Alltag bewusst und unbewusst. Was daraus wird, kann ich vorher nicht sagen. Jedes Bild ist ein Tag: Augenblicke, Notizen aus meinem Kopf zu diesem Tag.»
Dass die Natur einen so grossen Einfluss auf ihre Darstellungswelt nimmt, ist kein Zufall. Die Künstlerin ist überzeugt, dass alle Formen in der Natur schon da sind. Es gilt nur, sie zu entdecken. Ihre Verfremdungstechnik des Verkleinerns und Vergrösserns hilft bei dieser Entdeckungstour.
Die Lehre des Lebens verwoben mit Gestaltung
Bei ihrem beruflichen Werdegang schwankte sie zwischen Biologie und Kunst. Letztlich wurde es Textildesign, doch ihre Entwürfe machen ihre Liebe zur Welt der Pflanzen offenbar.
Im Konstanzer Wasserturm kontrastiert eine grosse Stoffbahn die kleinen Collagen. Hierauf schuf sie als work in progress einen «Irrgarten» in Anlehnung um die Sage des Ariadne-Fadens aus der griechischen Mythologie.
Nach ihrem Studium an der Fachhochschule Reutlingen mit Auslandsaufenthalten in Australien und Südafrika arbeitete die Textildesignerin in Winterthur für die Sammlung Oskar Reinhart. Zurück zum Stoff kam sie durch Silwi Rutz.
Die auf der Reichenau lebende schweizer Modedesignerin fragte sie vor zwei Jahren an, ob sie für sie Stoffe bemalen würde. Rutz legt Wert auf regionales und nachhaltiges Design von Unikaten.
Wie bemalt man eine Fassade?
Aus ihrer Zusammenarbeit entstand ein Kimono, der im Haus zur Glocke in Steckborn ausgestellt war. «Ich bin dankbar, dass Silwi mich ins Boot geholt hat und wir zusammen Textildesign und Mode machen.»
Ein weiteres Grossprojekt ist die Gestaltung der Hausfassade eines Hotels in Bremen. Das elf Meter hohe Bild sei eine Riesenherausforderung gewesen.
Neues Atelier im ehemaligen Apollo-Kino
Im Oktober 2022 konnte Anna Appadoo ihr neues Atelier im Gebäude des ehemaligen Apollo-Kinos in Kreuzlingen beziehen. Sie schätzt hier den Austausch mit anderen Kulturschaffenden. «Mein Netzwerk an Künstler:innen, mit denen ich zusammen arbeite, wächst.»
Dass eine Beobachterin des Alltags, die aus ihren Eindrücken Fantasiewelten kreiert, in einem stillgelegten Kino arbeitet, ist doch kein Zufall? Wir dürfen gespannt sein auf Neuigkeiten aus der Traumfabrik.
Von Judith Schuck
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