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von Tabea Steiner, 29.11.2020

Eine unruhige Reise

Eine unruhige Reise
Die Autorin Kaśka Bryla. | © Carolin Krahl

Ein Buch über das Verschwinden: Die Autorin und Literaturvermittlerin Tabea Steiner über «Roter Affe» von Kaśka Bryla (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Der Roman «Roter Affe» von Kaśka Bryla ist ein komplexes Gebilde. Und zwar, weil sich die Menschen darin selber und gegenseitig versuchen, zum Verschwinden zu bringen. Das Buch setzt ein mit einer Erinnerung von Mania, die zusammen  mit Tomek aufgewachsen ist. Die beiden Kinder laufen zusammen zum See, wo sie einschlafen und erst, als es dunkel ist, gefunden werden. Das geschieht an dem Tag, an dem Mania beschliesst, dass ab jetzt sie es ist, die bestimmt. Denn sie, mit ihren fünf Jahren, will sein wie David, der Goliath besiegt.

Es ist nur der Auftakt einer langen Reihe, in der immer wieder Menschen vermisst werden. Tomeks Mutter war die erste, und dann ist es Tomek, der verschwindet, und bereits die Grosseltern waren Vertriebene, Menschen, die man hatte verschwinden lassen wollen.

Erschütterungen der Vergangenheit

Kaśka Bryla erzählt davon, wie Mania in Wien ihre langjährige Freundin Ruth aufsucht, nachdem sie erfährt, dass Tomek seine Wohnung verlassen hat. Gemeinsam mit Ruth und Zahit, jenem jungen syrischen Mann, den Mania im Auto nach Wien gebracht hatte, wo er bei Tomek lebte, und Sue, der Hündin, machen sie sich auf die Suche nach dem gemeinsamen Freund.

Es ist eine fieberhafte Fahrt, nicht nur, weil Zahit keine Papiere hat, und auch nicht nur, weil die Angst um Tomek mit jedem Kilometer grösser wird. Es sind die Erschütterungen der Vergangenheit, die hellwach werden, verschwiegene Erfahrungen und Geheimnisse, die im Verborgenen jahrelang gegärt haben.

Es herrscht eine seltsame Stimmung zwischen den vier Passagieren, die Fronten sind unklar, Vertrautheit und Misstrauen folgen in schwer einzuschätzendem Takt aufeinander.

Die verbindende Kraft der Sprache

«Roter Affe» erzählt aber auch von der verbindenden Kraft von Sprache, und wie aus gemeinsamen Erlebnissen Literatur wird. Tomek hat sich nämlich auf eine Liebe eingelassen mit Marina, Marina aber ist jemand, die andere mit sich zieht, in die Tiefen, ins Dunkle.

Er kann sich diesem Sog nicht entziehen, er kann nur davon berichten, in kleinen Notizen, von denen er hofft, dass sie bei Mania auch wirklich ankommen. Es sind seine ganz persönlichen Gedanken, seine Erinnerungen, durch die nach und nach deutlich wird, in welche Ungeheuerlichkeiten die Reisenden tatsächlich verstrickt sind.

Die grossen Fragen: Was ist gut? Was ist böse?

Gleichsam Abgesandten ihres eigenen Schicksals geraten Mania und Ruth während der Reise immer wieder in Auseinandersetzungen über das ganz Grundsätzliche: Das Böse und das Gute. Es ist Ruth, die verurteilt, dass Zahit sich seinen Lebensunterhalt mit Dealen verdient, und es ist Mania, die sich verändern will, um andere Menschen verändern zu können. Man ahnt, was unter dieser Oberfläche, auf der alle noch immer Freundschaft und Idealismus verbindet, alles verborgen liegen muss.

Und als Leserin weiss man, mit jeder Seite, die man liest, mit jedem Kilometer, die das Auto hinter sich bringt, kommt man diesem Grauen näher, aber man kann sich diesem Sog nicht entziehen, genauso, wie die Figuren sich gegenseitig in ihre Schicksale hineinziehen, und man kann die Augen nicht verschliessen – obschon gerade dies die Figuren so oft schon getan hatten, wenn es darauf angekommen wäre.

Zwischen Beeinflussung und Manipulation

Kaśka Bryla ist ein Romandebüt gelungen, in dem gezeigt wird, wie Menschen sich gegenseitig beeinflussen können, aber auch, wie Menschen sich gegenseitig manipulieren, und wie schmal der Grat zwischen dem einen und dem anderen ist.

Und immer wieder stellt sich die Frage, was ein guter Mensch ist, was gute Absichten sind, und wann etwas böse ist, und wann das, was als böse taxiert, gut ist, weil die Absichten gut sind. Es sind komplexe Fragen, nach Empathie, nach Kriminalität und Intoleranz, welche das Buch und darin die Figuren in greifbaren Dialogen stellen, und auf die immer wieder bei Hanna Arendth, aber auch bei Ovid, Ingeborg Bachmann und vielen weiteren nach Antworten gesucht werden.

Wie Sprache den Menschen lebendig werden lässt

Aber wenn es auch ein Buch über das Verschwinden ist, selbst über das gewaltsame Verschwindenlassen von Existenzen, so ist es gleichzeitig ein Buch darüber, wie Sprache den Menschen und sein Wesen sichtbar, lebendig werden lässt.

Besonders eindrücklich wird dies an Tomek gezeigt, dessen ganz intime Tagebücher man über Manias Schultern hinweg mitliest, und die zunehmend irritieren und verwirren, bis er, der doch ein Schreibender sein will, schliesslich resigniert: «Meine Sprache ist vor mir zurückgewichen.»

Nur die Hündin Sue bewahrt kühlen Kopf

Er sagt es in seinem wohl verletzlichsten Moment, und er sagt es in vollem Bewusstsein, kurz, bevor er zusammenbricht. Und nach diesem Kollaps ist er, zumindest vorläufig, nur noch imstande, in Zitaten zu sprechen.

Auf dieser unruhigen Reise ist aber eine dabei, die den anderen in ihrer Gelassenheit bei  Weitem überlegen ist. Es ist Sue, die Hündin, die einen kühlen Kopf bewahrt. Und sie ist das verbindende Moment zwischen all diesen Menschen, die so sehr aneinander hängen, dass es wehtut.

Und derweil die Hündin immer wieder für Überraschungen und Momente der Leichtigkeit sorgt, schleichen sich ganz unbemerkt Gefühle ein, Liebe macht sich breit und eröffnet diesen Menschen ganz neue Möglichkeiten, so dass sie sich selbst in bisher ungeahnte Freiheiten entlassen können.

 

Die Autorin Kaśka Bryla

Die Autorin: In Wien geboren, zwischen Wien und Warschau aufgewachsen. Studium der Volkswirtschaft in Wien, Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, wo sie 2015 die Literaturzeitschrift und das Autor_innennetzwerk PS-Politisch Schreiben mitbegründete. Sie war Redakteurin des Monatsmagazins an.schläge, erhielt 2013 das STARTStipendium, 2018 den Exil-Preis für Prosa. Seit 2016 gibt sie Kurse zu Kreativem Schreiben in Gefängnissen und für Menschen mit Migrationshintergrund. 2019 inszenierte sie in Leipzig die Reihe Szenogramme. „Roter Affe“ (2020) ist ihr erster Roman. Im Internet: www.kaskabryla.com

 

Das Buch: Kaśka Bryla. Roter Affe. Erschienen im Residenz-Verlag. 240 Seiten. Format: 125 x 205. ISBN: 9783701717323

 

 

Die Lesungen & die Serie

„Debüts: Der erste Roman“ heisst eine Lesereihe von Judith Zwick, die im Laufe des November stattfindet. thurgaukultur.ch ist Kooperationspartner der Reihe. Coronabedingt finden alle Lesungen und Gespräche nun digital statt. Sie sind zu den angegebenen Terminen auf unserer Internetseite zu finden.

 

Die Lesungen:

Donnerstag, 12. November:
Ulrike Almut Sandig „Monster wie wir“.
Ein Briefwechsel und digitales Gespräch zwischen der Autorin und Judith Zwick

Donnerstag, 19. November:
Julia Langkau „Flussgeboren“.
Livestream-Lesung mit Gespräch. Moderation: Michael Lünstroth, Redaktionsleiter thurgaukultur.ch, Live über YouTube- und Facebook-Seite von thurgaukultur.ch

Donnerstag, 26. November:
Thilo Krause Elbwärts“.
Ein Interview und eine digitale Lesung.

 

Weitere Details zu den Lesungen gibt es auch hier:
https://judithzwick.de/debuets/

 

Das Projekt wird gefördert vom Literaturhaus Thurgau, Kulturamt Konstanz, dem Fonds Neustart Kultur und der Buchhandlung Homburger & Hepp.

 


Die Serie:

Zur Lesereihe erscheint bei uns im November, immer sonntags, auch eine Artikelserie rund um das Thema „Debüts“, in der wir weitere lesenswerte Debütromane vorstellen. Alle Beiträge aus der Reihe bündeln wir im Themendossier «Debüts».

 

«Das erste Mal»: Ein Text zur Bedeutung von Debüts von Michael Lünstroth

Sonntag, 8. November:
Die Journalistin Bettina Schnerr bespricht das »Buch der geträumten Inseln« von Lukas Maisel. (Rowohlt Verlag. Hamburg/Berlin 2020)

Sonntag, 15. November:
Die Buchhändlerin Marianne Sax präsentiert »Siebenmeilenstiefel« von Simon Deckert (Rotpunktverlag 2020) und »Drei Leben lang« von Felicitas Korn (Kampa Verlag 2020).

 

Sonntag, 22. November:
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Özkan Ezli denkt nach über »Streulicht« von Deniz Ohde (Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. M. 2020)

Sonntag, 29. November:
Die Autorin Tabea Steiner schreibt über »Roter Affe« _von Kaśka Bryla (Residenz Verlag. Wien/Salzburg 2020)

 

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