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Die Kunst und der goldene Boden

Die Kunst und der goldene Boden
All that glitters is gold? Ausstellungsansicht des Gewölbekeller im Kunstmuseum Thurgau von "Vom selben Stern". | © Michael Lünstroth

Die Auflösung der Aussenseiterkunst: Die neue Ausstellung „Vom selben Stern“ im Kunstmuseum Thurgau zerstört spielerisch und lustvoll alte Kategorien und festgefahrene Definitionen. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Mit der so genannten Aussenseiterkunst ist das so eine Sache. Die oft dramatischen und manchmal auch herzzereissenden Biografien vieler Künstlerinnen und Künstler dieser Sparte behindern oft einen klaren Blick auf das eigentliche Werk.

Der Mensch ist nicht immer, aber doch eben oft ein mitfühlendes Wesen. Die Trennung zwischen Werk und Künstler:in fällt da schwer. Was wäre nun, wenn man eine Ausstellung machte, in der man Arbeiten von Aussenseiter-Künstler:innen mit jenen von arrivierten Kunstschaffenden mischte und die einzelnen Werke für sich sprechen liesse? So ganz ohne jede Beschreibung und Namenskennung an der Wand. 

Was zählt ist das Werk. Wirklich?

Das ist in etwa die Aufgabe, die sich das Kunstmuseum Thurgau in seiner aktuellen Ausstellung „Vom selben Stern“ (zu sehen bis 7. September 2025) gestellt hat. Es ist auch der Versuch, einen Satz von Daniel Baumann, früherer Direktor der Kunsthalle Zürich, mithilfe einer plastischen Ausstellung im Raum zu belegen.

Baumann schrieb bereits 2001: „Es gilt heute als unbestritten, dass grosse Kunstwerke an unerwarteten Orten entstehen können und dass ihre Bedeutung nicht davon abhängt, ob ihr Urheber die Kunst und ihre Geschichte kennt. Was zählt, ist das Werk, sein ästhetischer Reichtum, seine Komplexität, die Gedanken und Bezüge, die es formuliert, deren Präzision und was es riskiert.“

Das Thurgauer Kunstmuseum hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder um dieses Thema bemüht. In zahlreichen Ausstellungen versuchte das Haus bestehenden Klischees und Vorurteilen entgegen zu arbeiten. Hier, hier und hier zum Beispiel. Die jetzt von Stefanie Hoch kuratierte neue Ausstellung möchte dies auf neue Weise herausarbeiten.

Sie trägt den Titel „Vom selben Stern. Was heisst hier Aussenseiterkunst?“ In Zeiten der Spaltung wolle man sich dem Verbindenden widmen, heisst es im Begleittext zur Ausstellung. Was also verbindet Arbeiten von Hans Krüsi, Ghislaine Ayer und Ulrich Bleiker mit jenen von Helen Dahm, Roman Signer und Ferdinand Hodler

 

Aussenseiter oder nicht? Zum Auftakt der Ausstellung "Vom selben Stern" dürfen die Besucher:innen im Kunstmuseum Thurgau rätseln. Bild: Michael Lünstroth

Leitmotiv der Ausstellung - der Nachthimmel

Die Suche beginnt im Untergeschoss der Kartause Ittingen. Das Motiv des Nachthimmels ist thematisches Leitmotiv, denn, so der Ausstellungstext, „der Blick in die Sterne verbindet nicht nur alle Menschen, sondern auch alle Menschheitsgenerationen.“ Was die Besucher:innen auf den ersten Blick sehen sind: eine teufelsähnliche Gestalt, eine Eule, eine nächtliche Winterlandschaft, einen Baum, der bunt und pilzartig nach oben wächst sowie einen gelbroten Abendhimmel, vor dem sich Bäume in die Höhe strecken. Zeichnung, Radierung, Ölbild, ein Bild, das aussieht als sei es mit einem Farbstift gemalt, die Stile sind ebenso unterschiedlich, wie die Motive.

Die grosse Frage, die sich damit gleich zu Beginn stellt: Macht es einen Unterschied, wer das Bild gemacht hat? Auch wenn man den Dietrich schnell identifiziert anhand seiner Signatur, entwickelt sich daraus trotzdem ein interessantes Gedankenspiel, in dem sich jede:r Besucher:in selbst prüfen kann. 

Mit so einem spielerischen Rätsel eine Ausstellung zu eröffnen ist eine ziemlich gute Idee, weil man die Besucher:innen sofort einbindet. Als Betrachter:in hat man so im Grunde keine Chance teilnahmslos an den Arbeiten vorbeizulaufen, weil die Neugier einen packt. Die anstachelnde Frage dabei: Gibt es Spuren, anhand derer man die Werke von ausgebildeten Künstler:innen von jenen unterscheiden kann, die sich meist autodidaktisch der Kunst angenähert haben? Spoiler: Natürlich gibt es die. Aber jede:r Besucher:in kann so einen eigenen Zugang finden.

 

Ghislaine Ayer, Ohne Titel (Helm aus Kodak-Filmkameras); Assemblage aus Fell, Kodak-Filmkameras, Hörnern, u.a. Bild: Michael Lünstroth

Mehr wissen oder mehr entdecken?

Derart detektivisch kann man sich durch die gesamte Ausstellung arbeiten. Wer es nicht anders aushält, kann sich natürlich auch ein ausliegendes Saalblatt nehmen, in dem die einzelnen Werke beschrieben werden. Wer das macht, weiss vielleicht mehr, nimmt sich aber gleichzeitig auch ein bisschen die Expeditionslust beim Entdecken der Ausstellung. 

Es ist ja durchaus interessant beispielsweise die unterschiedlichen Versionen von Eulen zu beobachten. Man sieht die Tiere durch die Augen verschiedener Künstler:innen. Was ist Abbild von Natur, was ist eher Beschreibung innerer Zustände und was hat die Wahl der Darstellung mit den einzelnen Künstler:innen zu tun? Nimmt man das erklärende Saalblatt erst nach dem Betrachten zur Hand, wird man die eine oder andere Überraschung erleben können.

Video: arttv.ch über die Ausstellung

Von Pink zu Gold

Herzkammer der Ausstellung ist aber der Gewölbekeller. Im vergangenen Jahr hatte Olga Titus ihn in Pink getaucht, jetzt glitzert alles golden. Der Boden ist ausgeleget mit Goldfolie. Das führt dank der Beleuchtung zu ganz schönen sternartigen Effekten an der Decke des Raumes einerseits und führt andererseits dazu, dass der Boden uneben und wackelig wirkt. Erste Frage, die sich trotzdem stellt: Hat jetzt nicht nur das Handwerk, sondern auch die Kunst goldnen Boden? Oder ist das alles nur eine Illusion schöner Effekte? 

Ganz gleich wie, es ist wohl vor allem eine ziemlich gute Entsprechung zu dem, was es heute bedeuten kann Künstler:in zu sein. Es mag alles goldig aussehen, aber in Wahrheit ist doch alles ziemlich wackelig. Es liegt eine gewisse Verunsicherung im Raum, was ja auch ganz gut zum Gemütszustand vieler Menschen heute passt. 

Im Gewölbekeller treffen installative Arbeiten (Ulrich Bleiker und Jaber al Mahjoub) auf Malerei, Textilkunst und Aquarelle. Lichtinszenierung, Raumgestaltung, Komposition der Bilder - Kuratorin Stefanie Hoch hat in diesem Raum eine besondere Atmosphäre geschaffen, die man schwer fassen kann. Es ist irgendwas zwischen irritierend und berührend. Als Besucher:in bleibt man in diesem Raum immer unter Spannung, weil man nie weiss, ob die schrägen Figuren von Ulrich Bleiker nicht doch noch anfangen sich zu bewegen. 

 

Ulrich Bleiker, Frau mit grossem Aufsatz (Kunstmuseum Thurgau). Bild: Michael Lünstroth

Im Sog der Sterne von Helmut Wenczel

Aufrecht erhalten wird diese Spannung vor allem von zwei Fixpunkten: einem verstörenden Porträt einer rotgesichtigen Person, die vor einem Tisch mit zwei Pistolen steht (Boskovic-Scarth) und dem zauberhaften Sternenbild (Helmut Wenczel) an der hintersten Wand. Hier möchte man am liebsten ewig verweilen, um immer wieder neue Galaxien und Sternbilder zu entdecken. Das Bild hat Suchtgefahr, man kann sich schlicht nicht satt sehen an den leuchtenden Formen.

So beruhigend Helmut Wenczels Arbeit wirkt, so aufwühlend ist Ghislaine Ayers Arbeit, die eine ganze Wand einnimmt. Die bereits verstorbene Künstlerin hat Fotografien von wissenschaftlichen und medizinische Illustrationen, Gebrauchsanweisungen eines Computerspiels, Action-Schnappschüsse aus einem virtuellen Leben sowie Zellstrukturen ausgedruckt, auf Furnierholz montiert und in mehreren Schichten mit Kunstharz überzogen. Interessanter Effekt daraus: Durch die chemische Reaktion der Materialien entfärben sie sich und wirken wir Keramikfliesen.

Das betrachtende Auge sucht nach Halt in dem Nebeneinander von Wissenschaft und Wahnsinn, findet dabei aber nur verstörende Anker wie einen Soldaten mit Maschinengewehr oder eine aliengleiche Figur mit Perlen auf dem Kopf. Ein beunruhigendes wie faszinierendes Fries unserer Zeit. Etwas mehr Leichtigkeit bringen die Arbeiten von Francois Burland in den Raum: „Rettet die Erde, es ist der einzige Planet, auf dem es Schokolade gibt.“ steht beispielsweise auf einem von ihm gestalteten Plakat, das zwei russische Kosmonauten zeigt.

 

Ulrich Bleikers Frau mit Aufsatz vor "Pistolen" von Boskovic/Scarth (Kunstmuseum Thurgau) Bild: Michael Lünstroth
Francois Burland, 2019. Linolschnitt coloriert. Zu sehen im Kunstmuseum Thurgau. Bild: Michael Lünstroth

Humor kommt aus der Westschweiz

Burland wurde von der Kunstschule abgelehnt. „Fasziniert von Nomaden und deren Mythologie lebt(e) er zeitweise in Ländern Nordafrikas. Heute arbeitet er in der Westschweiz oft gemeinsam mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen in seiner Druckwerkstatt und baut mit ihnen Objekte aus Fundmaterial“, klärt das Saalblatt zur Ausstellung auf. 

Wer sich danach noch die Mühe macht, ein paar Treppen nach oben zu steigen, wird mit einem Weltraumflug belohnt. Denn mit Sarah Hugentoblers Videoarbeit „Astronauten“ landen wir in einer sehr raumschiffartigen Umgebung. Drei nahezu identisch aussehende Figuren in Overalls, die verdächtig nach Raumanzügen aussehen, kalte weisse Fliesen, sehr enge Schlafkojen - wo sonst sollten wir sein als im All an Bord eines merkwürdigen Flugobjektes? Was wir hören ist mindestens irritierend. Hugentobler hat die Tonspuren von Interviews mit bekannten Persönlichkeiten übernommen. Nur, dass hier all diese Sätze aus dem Mund der Künstlerin kommen. Dank Lippensynchronisation sieht das täuschend echt aus.

 

Szene aus "Astronauten" von Sarah Hugentobler. Bild: János Stefan Buchwardt

Was Sarah Cooper und Sarah Hugentobler verbindet

Eine Technik, die seit einigen Jahren oft zu Unterhaltungszwecken in den Sozialen Medien genutzt wird. Die amerikanische Komikerin Sarah Cooper ist beispielsweise mit ihren sehr, sehr lustigen, lippensynchronisierten Parodien von Donald Trump zum Online-Comedy-Star geworden.

Allerdings: Sarah Hugentobler hat damit schon viel früher experimentiert. Während Cooper 2020 zu Ruhm kam, stammt das Video „Astronauten“ aus dem Jahr 2015. Es war eine der frühen Arbeiten von Hugentobler. Ihr Humor ist nicht so brachial wie bei Cooper, aber es gibt auch im Video, der aus Frauenfeld stammenden Künstlerin sehr komische Momente. 

 

Wesentliche Merkmale, die Hugentoblers Arbeit auch heute noch prägen, sind schon damals erkennbar. Neben dem Humor sind dies eine gewisse Rätselhaftigkeit, Experimentierlust, Präzision und eine seltsam berührende Coolness. Im ersten Moment denkt man, dass die Arbeit nicht so recht zur sonstigen Ausstellung passt. Aber stimmt das wirklich?

Was nicht passt, wird passend gedacht

Denn: Sarah Hugentoblers Video weitet den Blick und stellt eine Frage, die auch die sonstige Ausstellung umtreibt: „Ist verrückt heute nicht längst das neue normal?“ Sehenswert.

 

Jaber el Mahjoub, Esel mit Sack, um 1990 (Kunstmuseum Thurgau). Bild: Michael Lünstroth

 

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