von János Stefan Buchwardt, 06.06.2019
Wie viel Thurgau steckt in der Thurgauer Kunst?
Erkennt man in der Kunst den Ort, an dem sie entstanden ist? Gibt es so etwas wie eine Thurgauer Kunst? Und welche Rolle spielt die Kultur für die Identität einer Region? Eine Reflexionsreise, ein protokollarisches Kunstkaleidoskop.
Grundsätzlich schlägt sich Martha Monstein, Leiterin des kantonalen Kulturamtes, auf die Seite von Ben Vautier. Der französische Künstler schweizerischer Herkunft habe den Slogan von der Schweiz, die gar nicht existiere, 1992 anlässlich der Weltausstellung in Sevilla auf ironische Weise in die Welt gesetzt. Im Sinn von «La Suisse n'existe pas» gäbe es viele «Schweizen», so Monstein, die sich durch Mehrsprachigkeit, Vielfalt und Facettenreichtum auszeichneten: «Das Schöne am Kunst- und Kulturschaffen ist ja gerade, dass es sich nicht an Grenzen und Labels hält, sondern frei und weltoffen agiert.» Dass die Zuordnung zu einem Land, einem Kanton oder einer Region vor allem fördertechnische Gründe habe, da scheint Gioia Dal Molin, Beauftragte der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, mit ihr einig. Und auch darin, dass dies in der Schweiz gut funktioniere.
Einwand kommt vom Publizisten Alex Bänninger: Aus seiner Sicht bleibe in der Thurgauer Förderung die «ökonomische Unvernunft» (Peter von Matt) aus und generöse Sponsoren und Mäzene fehlten gar gänzlich. Eine Folge daraus für ihn: Das Thurgauer Kunst- und Kulturschaffen sei zu unsichtbar, «um die ausserkantonale Wahrnehmung und Präsenz des Kantons zu verbessern.»
«Im Thurgau herrscht ein friedlicher Wildwuchs. Hier gibt es grosszügige, unbeackerte Flächen, die nach Kultur zu schreien scheinen.»
Micha Stuhlmann, Performerin
Andererseits müsse die Kunst durchaus durch sich selber sprechen und innerhalb des Kantons eine starke Resonanz erreichen. Überraschende und Gesprächsstoff liefernde Angebote besässen im Thurgau jedoch Seltenheitswert. Das sei das Problem – und das ausserkantonale Desinteresse die unweigerliche Konsequenz. Für die Produktion von Kunst und Kultur brauche es keine Zugehörigkeit, sondern nur einen Ursprungsort.
Die Kulturbeauftragte Molin spezifiziert für ihren Bereich: «In dieser heterogenen Kunstwelt muss gerade auch die Kunstförderung darauf achten, dass beispielsweise Künstlerinnen oder Kunstschaffende mit Migrationserfahrung sichtbar sind, losgelöst davon, ob sie ihre Wurzeln in Ermatingen oder Aleppo haben und wie lange sie schon im Thurgau sind und hier zu bleiben gedenken.» Die Kunstwelt sei heute global organisiert. Bewegung sei zentral, kantonale Herkunft in diesem Kontext nicht mehr entscheidend. Dass sich künstlerische Arbeit auch aus spezifischer Herkunft nähre, wie Molin feststellt, lässt sich etwa am Künstlerpaar Zsuzsanna Gahse und Christoph Rütimann ablesen.
Der seit 20 Jahren im Thurgau lebende multimedial und international tätige Rütimann verortet sich durchaus auch kleinräumig, wenn er auf seine «Kulturkeule» verweist. Deren skulptural gebildeter Keulenkopf – ursprünglich entsteht er beim Prozess der Obstbaum-Veredelung – wird nur an ausgewählte Personen mit Bezug zur Ostschweiz vergeben. Er hat etwas geschaffen, das von der ältesten Waffe der Menschheit ausgeht. Symbolisch hat er sie zur generellen und Grenzen sprengenden Schlagkraft des Geistes umfunktioniert. Regionale Verbundenheit mutiert zu Allgemeingültigkeit. So auch bei seiner Frau: In ihrer Publikation «durch und durch» (Untertitel: Müllheim/Thur in drei Kapiteln) etwa geht die preisgekrönte Übersetzerin und Literatin Gahse von ihrem hiesigen Wohnort aus und macht ihn zum Durchzugskaff wie zum Nabel der Welt. Der Erhalt des Grand Prix Literatur beantworte die Frage nach der Aufmerksamkeit ausserhalb des Kantons zur Genüge.
«Die Vorstellung einer ‹Thurgauer Kunst› oder ‹Zürcher Kunst› gehört dem letzten Jahrhundert an.»
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau
Der Thurgauer Museumsdirektor Markus Landert geht von einer längst globalisierten Welt aus, wenn er konstatiert: «Die Vorstellung einer ‹Thurgauer Kunst› oder ‹Zürcher Kunst› gehört dem letzten Jahrhundert an.» Der Horizont von Kulturschaffenden, die im Thurgau wohnen, läge längst weit hinter den Kantonsgrenzen. Kunstschaffende seien ähnlich wie Berufspendler Menschen, die an verschiedenen und oft mehreren Orten leben und arbeiten, sich über Grenzen hinwegbewegen und darüber hinaus denken.
Das bestätigen etwa der bildende Künstler Christian Lippuner und Herbert Kopainig. «Tellerrand-Denken ist für mich ein Gräuel», so der Erstere. Er verstehe sich als Freidenker und produziere nicht in schweizerischen Normen. Und der Magier aus dem «Atelier-Institut PANOPTIKUM»: «Letztlich fühle ich mich in meiner kulturellen Identität, trotz aller Verbundenheit mit der Region, als ein Terranaut mit kosmonautischem Ursprung.» Dass Kunst eine kosmopolitisch verbindende Dimension habe und die Region Teil der ganzen Welt sei, formuliert der Visual Artist und Zeitgärtner Alex Meszmer so: «Dieses Einem-Kanton-verhaftet-Sein ist eine sehr schweizerische Sichtweise auf die Welt und eher ein Kuriosum. Kulturschaffende sind notgedrungen Nomaden.»
Im Unterschied zu Meszmer, der draussen in der Welt unterwegs sei, weil man künstlerisch in einem Kanton allein nicht überleben könne, der neue Erfahrungen, Reize und Begegnungen als Inspiration für die künstlerische Arbeit brauche, differenziert die Performerin und Musikerin Micha Stuhlmann auf ihre Weise: «Im Thurgau herrscht ein friedlicher Wildwuchs. Hier gibt es grosszügige, unbeackerte Flächen, die nach Kultur zu schreien scheinen.» Auch wenn dabei die Gefahr lauere, «unerhört spurlos in der Weitläufigkeit des Kantons zu verschwinden oder gar aktiv ignoriert zu werden, weil Inhalt und Ausdrucksgeste allzu quer zum ländlichen Dialekt stehen.» Ebenso verweist Bänninger neben der spezifischen Chance eines unaufgeregten Kulturbetriebs auf die «Gefahr, im stillen Kämmerlein zu vereinsamen». Stuhlmann scheine, «dass der Lebenspuls im Landgebiet deutlich zu hören ist.» Hingegen laufe «dieses Pulsieren im Siegerrauschen der zu überheblichem Lächeln tendierenden Zentren», wie sie sich ausdrückt, Gefahr unterzugehen.
Der Publizist aus Stettfurt spricht vom vermeintlichen Vorteil, dass die Thurgauer Medien das einheimische Schaffen notorisch über den grünen Klee lobten. Das führe leider zur Stärkung der Selbstgenügsamkeit. Auswärtige Medien nähmen das Thurgauer Kulturschaffen kaum zur Kenntnis. Der Künstler und Kurator Richard Tisserand klingt auf andere Weise pessimistisch, wenn er davon ausgeht, dass sich die Situation im Kanton nicht verändern werde. Die meisten sähen sich sowieso in der Mitte der Welt, die der Thurgau sei. Auf die Frage nach einer spezifischen Schweizer Art künstlerisch zu produzieren lautet seine kulturkeulenhafte Antwort: «Früh aufstehen.» Cornelia Zecchinel, Kantonsrätin, tönt hoffnungsfreudiger: «Auch die den Thurgauerinnen und Thurgauern zugeschriebene Eigenschaften wie bodenständig und bescheiden, können ein Schaffen beeinflussen.» Und die seien doch gar nicht so schlecht.
Für Christof Stillhard vom Amt für Kultur in Frauenfeld ist es – da zieht er mit Meszmer und Tisserand gleich – kaum vorstellbar, dass in Zürich jemand fragen würde, was einen Zürcher Künstler, eine Zürcher Künstlerin ausmache. Etwas anderes interessiere ihn aber viel mehr: «Spannender fände ich die Frage, ob ein weitverbreitetes Übel unter Kulturförderern, sich selbst zu wichtig zu nehmen und die Kunstschaffenden in erster Linie als Bittsteller zu betrachten, in einer provinziellen Gegend wie dem Thurgau noch mehr zur Geltung kommt als anderswo.»
«Für die Produktion von Kunst und Kultur braucht es keine Zugehörigkeit, sondern nur einen Ursprungsort.»
Alex Bänninger, Publizist
«Schon Adolf Dietrich», so Kunstmuseums-Direktor Landert, «der hier durchaus zu Recht als waschechter Thurgauer geschätzt wird, war nicht primär wegen seiner Thurgauer Motive berühmt, sondern weil er das, was er sah, auf ganz besondere Art und Weise in Bilder überführte. Er wurde und wird nicht primär als Thurgauer geschätzt, sondern weil er gute Kunst machte.» Seine Herkunft hätte dazu geführt, dass sein Werk hier über Jahrzehnte hinweg gepflegt und erforscht worden sei. Die Initiative der Thurgauischen Kunstgesellschaft und Geld aus kantonalen Kassen sorgten für eine Bekanntheit, die weit über den Kanton hinausreiche. Diese Mittel seien immer auch eingesetzt worden, einen Künstler als Botschafter des Herkunftskantons sichtbar zu halten.
«Auf einer eher materiellen Ebene», erläutert Stillhard, «kann die Herkunft aus dem Thurgau für die Kunstschaffenden eine Rolle spielen, dass sie hier vielleicht weniger Konkurrenz spüren, schneller bekannt werden als in urbaneren Gegenden oder dass sie umgekehrt weniger Gelegenheiten haben, an Stipendien, Fördergelder, Ateliers zu kommen.» Heute, führt Landert aus, gäbe es bei Gemeinden und Kanton Thurgau ein breites Angebot an Fördermassnahmen für Künstlerinnen und Künstler mit Bezug zum Kanton oder zur Gemeinde: «Dabei geht es nicht darum, eine thurgauische Kunst, eine Frauenfelder oder Weinfelder Kunst heranzuziehen. Vielmehr gibt es einen breiten Konsens, dass Kunstschaffende eine Gesellschaft mit ihren unkonventionellen Ideen und Ansätzen, die Welt zu sehen und zu interpretieren, entscheidend bereichern vermögen.»
«Läge dem offiziellen Thurgau daran», holt Bänninger schliesslich aus, «dem modernen Kanton zur Beachtung zu verhelfen, wäre das zeitgenössische Kulturschaffen wirksam und gerechtfertigterweise in die Aussenpolitik einzubeziehen.» Wenn Leopold Huber, See-Burgtheaterleiter, seine Aufgabe darin sieht, sich künstlerisch, also politisch mit seiner direkten Umgebung auseinanderzusetzen, zeugt das von innenpolitischem Vorstoss. Beides muss auf ausgewogene und verantwortungsvolle Weise ineinanderspielen. Vielleicht so, wie Kopainig meint, dass sich eine Vermittlungsstruktur etablieren könne, die den Austausch der Regionen national-international pflegt und sich bei der Aneignung und Verbreitung von Kunst weniger am Diskurs von Markt- und Spektakelwert orientiert, sondern mehr Wert auf künstlerische Authentizität und lebensrelevante Transzendenz legt.
Weitere Beiträge von János Stefan Buchwardt
- Thurgauer Nachtigall (02.10.2023)
- Am Rand der Welt (08.08.2023)
- Hype mit langem Atem
- Kommen und Gehen (17.03.2023)
- Schule der Wahrnehmung (27.10.2022)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Kunst
Kommt vor in diesen Interessen
- Debatte
- Belletristik
- Bildende Kunst
- Schauspiel
- Tanz
Ähnliche Beiträge
So grün war mein Herz
Am Ostersonntag ist der Doyen der hiesigen Kunstszene, Jürg Schoop, kurz vor Vollendung seines 90. Lebensjahres verstorben. Ein Nachruf von Kurt Schmid. mehr
Die Unschuld des Kükens
Der Kunstverein Frauenfeld präsentiert bis 5. Mai die Ausstellung „Early Feelings“ mit Arbeiten von Ray Hegelbach. mehr
Ueli Alder erhält Konstanzer Kunstpreis
Der Appenzeller Künstler erhält den mit 8000 Euro dotierten Konstanzer Kunstpreis. Mit der Auszeichnung ist auch eine Einzelausstellung verbunden. mehr