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von Judith Schuck, 02.11.2022

«Die Geschichten haben hoffentlich mit dem Leben zu tun»

«Die Geschichten haben hoffentlich mit dem Leben zu tun»
Manuel Stahlberger wird mit den Jahren immer düsterer | © Michael Schoch

Der St. Galler Liedermacher, Kabarettist und Comiczeichner Manuel Stahlberger spielte mit der „Liederlich-”Combo im Eisenwerk. Das Publikum erlebte düstere, kratizge Songs voll trockenem Humor. Wir haben vor dem Konzert mit dem Musiker gesprochen. (Lesezeit: ca. 5 Minuten)

Herr Stahlberger, Ihre Songs klingen in der Regel recht schwermütig. Die kratzigen Beats Ihres Band-Kollegen Bit-Tuner unterstreichen dies. Gilt die Melancholie für Sie als Schaffensmotor oder ist sie eher Stilmittel?

Sie ist eine Stimmung, aus der heraus ich gut schreiben kann. Das ergibt sich meistens von selbst. Bei den Solo-Konzerten zeige ich zwischen den Liedern gezeichnete Diashows. Die sind eher das Gegenteil von melancholisch, aber die brauche ich genauso.

Also Düsterkeit und Komik ergänzen sich gut?

Ja, es braucht beides, oder ich brauche beides. In den letzten Jahren wurden meine Songtexte eher ernster, schwerer. Das hat sich so ergeben. Aber ich geniesse das Herumblödeln mit Bildern total, das gehört genauso zu mir.

In einem Interview sagten Sie einmal, Sie wären völlig planlos in die Kleinkunst- und Liedermacherszene reingerutscht. Wie ist das passiert?

Mit 20 Jahren habe ich zusammen mit einem Freund für ein Quartierfest aus Jux ein paar Lieder geschrieben. Unsere Idee war ein einmaliges Konzert für Freunde, aber es hat sich dann rasch herumgesprochen, dass da zwei Typen so komische Songs machen. So haben wir da an einer Eröffnung und dort an einer Party gespielt und plötzlich sogar etwas Geld mit diesen Konzerten verdient.

Sie haben sich nie in einem gängigen Beruf gesehen. Was war dann Ihre Wunschbeschäftigung?

Ich wollte von der Kunst leben. Zuvor habe ich bereits als Karikaturist und Comiczeichner manchmal kleine Aufträge gekriegt – also habe ich diese Chance am Schopf gepackt und mich damals quasi dafür entschieden, dass Liedermacher mein Beruf sein soll.

 

«Ich geniesse das Herumblödeln mit Bildern total.»

Manuel Stahlberger

Da Sie bereits einige Auszeichnungen erhalten haben, darunter 2021 den Schweizer Preis Darstellende Künste, hat sich dieser Weg ja als der richtige erwiesen.

Ja und die Reise scheint mir noch lange nicht vorbei zu sein.

Auf Ihrem neuesten Album „I däre show“ gibt es den Song „Dureringe“. Der Refrain lautet: „Sich selber liebe und sich ganz von sich entferne und auf dem Rückweg neu kennelerne“. Muss die Beziehung zum Selbst genauso intensiv gepflegt werden, wie die Beziehung zu einem anderen Menschen? Also auch die nötige Distanz eingehalten werden, um sich nicht in sich zu verlieren?

Grosse Frage! Ich bin ein schlechter Berater, aber natürlich soll die Beziehung zu sich selbst gepflegt werden. Ich finde ständig Zeug über mich heraus und finde es schön, mich immer wieder neu zu entdecken und offen zu sein. Das tönt jetzt schwurblig, ich vermute aber jedenfalls, ich könnte ganz woanders stehen im Leben oder beruflich, und es wäre auch gut. Ein gutes Gefühl.

Wo denn?

Keine Ahnung, irgendwo, überall. Auf einem anderen Kontinent, in den Bergen, auf dem Meer wäre ich gerne. Oder Schreiner oder Architekt. Ich hätte früh in meinem Leben Weichen anders gestellt und dadurch andere Leute getroffen in all den Jahren, andere Seiten von mir stärker ausgeprägt. Genau habe ich mir das nie vorgestellt, aber man könnte die Idee lange durchspielen. Könnte natürlich auch alles bachab gegangen sein.

 

Manuel Stahlberger mit Bandkollege Bit-Tuner
Manuel Stahlberger mit Bandkollege Bit-Tuner. Bild: Michael Bodenmann
In „S erscht Mol“ erzählen Sie von einem Schlüsselerlebnis. Als Zweitklässler besuchten Sie zum ersten Mal ein Fussballspiel mit Ihrem Vater. Er sagte ein falsches Resultat vorher – zum ersten Mal hatte der Vater nicht Recht. Was löste das in Ihnen aus?

Das Spiel damals löste in mir vor allem aus, dass ich Fan vom FC St.Gallen wurde, sie haben den damaligen Serienmeister GC 5:1 geschlagen. Das Spiel und die Stimmung im und ums Espenmoos in jenen Jahren haben sich mir eingebrannt: der Sternenmarsch zum Stadion, das zuparkierte Quartier Heiligkreuz, die Nervosität und Vorfreude. Die Fehlprognose meines Vater – er hatte ein 3:1 für GC vorausgesagt – ist mir erst vor ein paar Jahren wieder in den Sinn gekommen. Und es war tatsächlich das erste Mal, dass ich wahrgenommen habe, dass mein Vater auch mal daneben liegt. Verwoben mit einem kurzen Matchbericht, fand ich das einen Song wert.

Sie sagen, Ihre Lieder hätten keine grossen Pointen. Warum meiden Sie hier diesen klaren Schluss?

Ich erzähle den Teil einer Geschichte, der mir wichtig erscheint. Das Bild soll klar sein, aber nicht ausgemalt. Ich habe es gerne, wenn man sich eine Geschichte selber weiterdenken kann. Das geht mir auch als Zuhörer so. Wenn alles fertig erzählt und erklärt ist, finde ich es in der Kunst langweilig.

Hierzu kommt mir die Theorie des Offenen Kunstwerks von Umberto Eco in den Sinn. Moderne Kunst versucht durch ihre Offenheit den Rezipienten mit einzubeziehen in den schöpferischen Prozess. Geht das in diese Richtung für Sie?

Hmm, für mich sind die Lieder schon fertige Werke, ich will ihnen nichts mehr hinzufügen. Mir kommen da zum Beispiel Raymond Carvers Geschichten in den Sinn. Er schreibt über einen Moment aus dem Leben von den verschiedensten Leuten, aber ich lerne diese Personen auf wenigen Seiten kennen und bleibe länger bei ihnen.

 

«Wenn alles fertig erzählt und erklärt ist, finde ich es in der Kunst langweilig.»

Manuel Stahlberger

Was möchten Sie mit dem Publikum teilen?

Im besten Fall können meine Geschichten die Leute berühren und unterhalten, das finde ich schon wichtig. Und die Sachen haben hoffentlich mit dem Leben zu tun.

Wie entscheiden Sie, welches Medium Sie für einen Inhalt verwenden? Sie sind ja nicht nur Liedermacher, sondern auch Kabarettist und Comiczeichner.

In der Regel entscheidet die nächste Deadline: eine Premiere von einem Solo oder die nächste Probesession mit der Band. Comics habe ich schon lange keine mehr gemacht. Das würde ich gerne mal wieder tun, aber ich habe eine Familie, zwei Kinder, bin viel auf Tour, nächstens müssen wir noch zügeln, da bleibt nicht für alles Zeit.

Fühlen Sie sich eher als Liedermacher oder als Musikkabarettist? Oder hängt das auch vom Auftrittsort ab (Konzert, Theater)?

Musikkabarett würde ich meine Sachen nicht nennen. Liedermacher trifft es besser. Und je nachdem, ob ich die Lieder für eine Solo-Show mache oder zusammen mit der Band, schreibe ich verschieden. Songtexte für die Band sind oftmals fragmentarischer und lassen mehr Platz für die Musik, die wir in Jamsessions zusammen entwickeln. Wenn ich alleine auf der Bühne bin, habe ich auch gerne Lieder, die etwas vollgetextet sind, wie zum Beispiel jenes über meinen ersten FC St.Gallen-Match.

Die Geschichten in Ihren Songs erzählen Sie in der Regel nicht als Ich-Erzähler. Sie lassen Figuren sprechen. Die Autorin Sarah E. Müller, die in ihren Kolumnen in der Tageszeitung „Der Bund“ auch eher andere erzählen lässt, sagte kürzlich, dass auf diese Weise lustigere Dinge passierten, als wenn sie selbst sprechen würde. Haben Sie da ähnliche Erfahrungen gemacht?

Nein, auch wenn ich aus der Ich-Perspektive singe, muss das ja noch lange nicht 1:1 meine Geschichte sein. Und wenn ich eine Geschichte jemand anderem andichte, hat die Person fast immer auch mehr oder weniger mit mir zu tun.

 

«Musikkabarett würde ich meine Sachen nicht nennen. Liedermacher trifft es besser.»

Manuel Stahlberger

Im Rahmen des Liedermacherfestivals „Liederlich“ touren Sie aktuell mit Reto Zeller, Tina Häussermann sowie Ines Fleiwa und Cordula Zwischenfisch von „Zärtlichkeiten mit Freunden“ durch die Schweiz. Was ist das Schöne am gemeinsamen Touren?

Es ist sehr relaxed, mal nicht für den ganzen Abend allein verantwortlich zu sein. Und ich freue mich immer, Sachen von anderen zu sehen, die ich noch nicht kenne. Die Liederlich-Combos sind immer wieder anders zusammengewürfelt, und diesmal freue ich mich besonders auf ein Wiedersehen mit Stefan und Christoph von den „Zärtlichkeiten mit Freunden“.

Was verbindet Sie mit dem Duo?

Wir waren vor Jahren zusammen bei „Stille kracht“ engagiert, dieser Vorweihnacht-Dinnershow im Casinotheater Winterthur. Da hat man jeweils nur ein, zwei Kürzest-Auftritte pro Abend. Die meiste Zeit verbringt man mit Warten, und die Warterei mit Ines Fleiwa und Cordula Zwischenfisch, wie sie sich auf der Bühne nennen, war jeden Abend super.

Geht Ihr euch da manchmal auch auf den Keks? Ich kann mir vorstellen, dass eigenbrötlerische Solo-Künstler:innen nicht immer gut als harmonische Gruppe funktionieren?

Bevor ich mit Soloauftritten begann, habe ich 16 Jahr lang in den zwei Duos „Mölä & Stahli“ und „Stahlbergerheuss“ gespielt. Aus meiner Erfahrung sind Duos tatsächlich ein Aufeinanderprallen von zwei Egos. Das hat etwas sehr Starkes, man pusht sich, aber man geht sich auch häufig auf die Nerven, klar. Die Liederlich-Combos sind ganz etwas anderes. Wir sind ja nicht für immer zusammen. Das ist sehr locker, auch weil Reto Zeller ein wunderbarer Gastgeber ist.

Das „Liederlich“-Festival hat es sich zur Aufgabe gemacht, Liedermacher:innen und Musikkabarettist:innen im deutschsprachigen Raum eine „angemessene Bühne zu bieten“. Wie sind Ihre Erfahrungen mit diesem Genre? Benötigt es mehr Förderung?

Ich kann hier nur für mich sprechen: Ich benötige nicht mehr Förderung. Ich kann viel spielen und komme über die Runden mit meinen Gagen, die bei so einem Zusammentreffen wie dem Liederlich pro Person sowieso niedriger sind, als wenn ich einen ganzen Abend mit meinem Soloprogramm auftrete.

 

«Aus meiner Erfahrung sind Duos tatsächlich ein Aufeinanderprallen von zwei Egos. Das hat etwas sehr Starkes, man pusht sich, aber man geht sich auch häufig auf die Nerven, klar.»

Manuel Stahlberger

Liederlich-Festival

Liederlich wurde 2012 vom innerschweizer Liedermacher, Schauspieler und Kolumnist Reto Zeller ins Leben gerufen, um dem traditionsreichen Genre der Liedermacherei eine angemessen Bühne zu geben. 200 Auftritte unterschiedlicher Combos sind bis heute das Resultat. Für die Künstler:innen, die für gewöhnlich auf Solo-Tour sind, ist dieser Zusammenschluss eine willkommene Abwechslung. Teilweise entsteht aus dem gemeinsamen Touren auch ein Kollektiv-Song.

Im Thurgau stoppt die diesjährige Herbsttournée von „Liederlich“ am 4. November im Eisenwerk, Frauenfeld.

 

Mehr zum Festival: www.liederlich.ch

 

 

 

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