von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 05.12.2025
«Herr Wagner, kommt jetzt die Werkschau zurück?»

Der neue Kulturförderwettbewerb „Ratartouille“ hat polarisiert. Nach drei Ausgaben stellt sich die Frage: Geht es weiter? Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung, im Interview über Macht, Teilhabe und Demokratie. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Herr Wagner, als die Kulturstiftung das Projekt Ratartouille lanciert hat, war klar, man macht diese neue Form der Kulturförderung jetzt drei mal und zieht dann Bilanz. Die drei Ausgaben sind jetzt gelaufen. Hat sich die Idee bewährt aus Ihrer Sicht?
Ich würde sagen, die Bilanz ist gemischt. Es gibt Dinge, die gut gelaufen sind, aber natürlich könnte man auch Dinge besser machen. Was mir gefallen hat war, dass der Wettbewerb eine Diskussion darüber ausgelöst hat, was Kulturförderung soll und wie Kulturprojekte gefördert werden.
Unter dem Strich bleibt die Bilanz, dass von drei Gewinnerprojekten bislang nur eines umgesetzt wurde. Ist das nicht ein bisschen dürftig?
Ich glaube, diese Perspektive greift zu kurz. Zum einen wurde das dritte Gewinnerprojekt, die Frauenfelder Kulturbotschaft, ja gerade erst gekürt. Und bei den anderen angesprochenen Projekten sieht man vielleicht öffentlich aktuell nicht viel, aber das heisst ja nicht unbedingt, dass nichts läuft. Aber klar, ich kann verstehen, dass manche Menschen mit diesem Modus hadern. Ratartouille ist, wenn man so will, eine Risikokapitalförderung. Das kann gut gehen, kann aber auch scheitern.
Stefan Wagner (*1973, aufgewachsen in Gossau SG) wuchs nicht in einem klassischen “Kunst-Milieu” auf. Nach einer Ausbildung als Bahnbetriebsdisponent bei der damaligen Bodensee-Toggenburg-Bahn (heute Südostbahn) realisierte er, dass ihn diese Arbeit nicht erfüllte. Er holte die Matura nach und studierte auf dem zweiten Bildungsweg an der Universität Zürich Kunstgeschichte, Filmwissenschaft und Philosophie. Ab 2004 war er als Kurator, Kunstvermittler und Autor tätig, unter anderem im Off-Space Corner College. Für seine Vermittlungsarbeit erhielt er den Swiss Art Award. Seit Dezember 2019 ist er gescäftsführender Beauftragter der Kulturstiftung Thurgau und entwickelt dort unter anderem neue, partizipative Förderformate. Seine Leitidee: Kulturförderung soll aktiv sein — nicht nur Mittel verteilen, sondern Räume öffnen, Netzwerke stärken und künstlerische Freiheit ermöglichen.
Sind 100’000 Franken nicht zu viel Geld für ein solches Wagnis?
Nein, ich denke nicht. Zum einen braucht es ja eine bestimmte Summe, um solche Projekten eine Anschubfinanzierung zu ermöglichen. Zum anderen: Diese Summe ist auch in unserer sonstigen Förderpraxis nicht ungewöhnlich. Wir bekommen immer wieder Gesuche, die um 90’000 oder 100’000 Franken gehen. Man kann solche Summen also auch jenseits des Ratartouille-Wettbewerbs erhalten, wenn man eine überzeugende Idee liefert.
«Ratartouille ist eine Risikokapitalförderung.»
Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung des Kantons Thurgau (Bild: Judith Schuck)
Der am häufigsten genannte Kritikpunkt an Ratartouille war die Publikumswahl. Im Nachhinein betrachtet: War es eine gute Entscheidung die Vergabe der Gelder an ein vergleichsweise kleines Publikum zu übertragen?
Absolut. Ich fand die Publikumswahl vielleicht das Erfrischendste an dem ganzen Projekt. Solche Abstimmungen sind auch eine Form von kultureller Teilhabe. Und kulturelle Teilhabe bedeutet eine Form der Abgabe von Macht. Plötzlich können sich Leute beteiligen, die eine Jury so vielleicht nicht auf dem Schirm gehabt hätte. Das führt dazu, dass sich Deutungshoheiten verschieben. Deutungshoheiten darüber, was ein gutes, und was ein schlechtes Projekt ist. Das finde ich erstmal sehr spannend und eröffnet der Kulturförderung einen neuen Horizont. Wissen Sie, was ich daran auch gesellschaftlich bemerkenswert finde?
Sagen Sie es mir!
Wir leben in einer Zeit, in der demokratische Institutionen und Demokratie überhaupt infrage gestellt werden. Und jetzt führen wir, in der sonst als so progressiv geltenden Kulturszene, solche demokratischen Methoden ein und auch hier gibt es jetzt einen grossen Widerstand dagegen. Es gibt offenbar einen festen Glauben daran, dass Jurys immer besser entscheiden als ein Publikum. Für mich zeigt sich darin auch der aktuelle autoritäre gesellschaftliche Backlash, den wir erleben.
Ratartouille, 2020 von der Kulturstiftung lanciert, ist ein experimenteller Wettbewerb für Kulturprojekte im Thurgau. Alle zwei Jahre konkurrieren seither Ideen um 100’000 Franken. Das Besondere: Die Entscheidung fällt nicht eine Jury, sondern ein Publikum, das über die Vergabe der Mittel abstimmt. Der Wettbewerb soll neue Akteure sichtbar machen, Risiken ermöglichen und die Kulturförderung demokratischer gestalten. Die jüngste Ausgabe fand im Oktober 2025 in Weinfelden statt.
Das klingt für mich nach einer überhöhten Interpretation. Ist es wirklich demokratisch, wenn ein überschaubarer Kreis von 120 Personen entscheidet?
Es ist jedenfalls demokratischer als alles, was wir vorher in der Kulturförderung hatten. Aber ich gebe Ihnen in einem Punkt recht - wir müssten für das Finale von Ratartouille dringend das Publikum vergrössern. Die Ergebnisse bräuchten eine breitere Basis, vielleicht würden sie dann auch besser akzeptiert. Sollte es Ratartouille weitergeben, müssten wir das auf jeden Fall diskutieren. Es braucht offenbar mehr Investitionen in Marketing und Öffentlichkeitsarbeit. Wenn man das richtig machen will, dann braucht man aber viel Geld. Bislang haben wir das gescheut, weil es dann in keinem guten Verhältnis mehr zu den Künstler:innenhonoraren stünde. Und das ist ja unsere primäre Aufgabe: Kulturschaffende aus dem Thurgau in ihrer Arbeit zu unterstützen.
Sie haben gesagt „Sollte es Ratartouille weitergeben“. Ist das Projekt auf der Kippe?
Das muss letztlich der Stiftungsrat entscheiden. Bislang haben wir das dort noch nicht abschliessend besprochen. Wir werden alles nochmal in Ruhe anschauen, dann einen Blick darauf werfen, wie der diesjährige Gewinner seine Kulturbotschaft realisiert und dann im nächsten November eine Entscheidung treffen.

«Kulturelle Teilhabe bedeutet auch, Macht abzugeben.»
Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung des Kantons Thurgau (im Foto im Gespräch mit Samantha Zaugg, Bild: Beni Blaser)
Am Ende blieb oft der Eindruck, dass die Projekte gewinnen, die am besten Unterstützer:innen mobilisieren können. Unterläuft das nicht die Qualitätsansprüche an solch ein Format?
Nein, das sehe ich nicht so. Mobilisierung und die Gewinnung von Publikum sollte für Kulturschaffende doch zu ihrem Alltag dazu gehören. Die Kulturschaffenden müssen ein Stück auch selbst dafür Sorge tragen, dass sie ein Publikum finden. Das können sie nicht alles an uns oder andere Kulturförderinstitutionen auslagern.
Angesichts der zögerlichen Umsetzung der bisherigen Gewinner-Projekte. Müsste es im Sinne einer nachhaltigen Verwendung der Gelder nicht eine intensivere Begleitung der Umsetzung durch die Kulturstiftung geben?
Das ist ein guter Punkt. Wir haben exakt das auf die dritte Ausgabe verändert. Weil wir gemerkt haben, dass es auch den Projekten hilft, wenn wir da etwas länger dabei sind. Wir machen das übrigens nicht, weil wir Angst haben, dass das Geld sonst weg ist, wir vertrauen da den Kulturschaffenden sehr, dass sie sorgsam mit den Mitteln umgehen. Aber wir wollen die Initiator:innen auch nicht überfordern damit, dass sie plötzlich 100’000 Franken auf dem Konto haben. Das kann ja auch nervös machen. Deshalb zahlen wir jetzt eher gestaffelt und nach Projektmeilensteinen aus.
Debattiert wurde zuletzt auch die Frage der Wirkung der Gewinnerprojekte. Verpuffen die 100’000 Franken nicht, wenn Ideen nur halbgar umgesetzt werden?
Das sehe ich anders. Bei Ratartouille passiert auch viel, was nicht direkt öffentlich sichtbar ist. Netzwerke wachsen, neue Zusammenarbeiten entstehen und vor allem - es sind von den zweit- und drittplatzierten Projekten der früheren Jahrgänge ja auch einige realisiert worden - Kultur im Tankkeller Egnach zum Beispiel oder auch das Festival der Vorgärten von San Keller. Ich wage zu behaupten, sie hätten nicht in dem Umfang stattgefunden, wenn sie nicht bei Ratartouille dabei gewesen wären. In diesem Sinne hat der Wettbewerb reichlich Beifang mitgeliefert, von dem wir im Thurgau auch profitieren.
«Mobilisierung und die Gewinnung von Publikum sollte für Kulturschaffende doch zu ihrem Alltag dazu gehören.»
Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung des Kantons Thurgau
Es gab Künstler:innen, die dennoch die Frage gestellt haben, ob ein Format wie die für Ratartouille abgeschaffte Werkschau Thurgau nicht mehr bringen würde als alle Ratartouille-Projekte zusammen.
Ach, die Werkschau. Dazu möchte ich zwei Dinge sagen. Erstens: Als der Stiftungsrat 2020 entschieden hat, die Werkschau einzustellen, gab es eine grosse Einigkeit darin, dass das Format in die Jahre gekommen war und es etwas Neues für neue Impulse braucht. Zweitens: Wenn wir als Kulturstiftung beginnen, unsere Förderung so auszurichten, dass wir gerechte Honorare bezahlen können, was wir unbedingt wollen, dann wird das schnell viel Geld bei einer Werkschau kosten. Wir müssten jedem Teilnehmenden 5000 Franken zahlen. Angenommen man stellte Arbeiten von 50 Künstler:innen aus, wie in früheren Jahren, dann ist man allein mit den Honoraren bei 250’000 Franken. Zusätzlich kämen Kosten für Organisation, Durchführung, Marketing und so weiter, sicher auch nochmal 100’000 Franken. Da ist man schnell bei einem Budget von 350’000 Franken. Kann man machen, aber ich weiss auch nicht, ob das denn die gewünschte breite Wirkung erzielt.
Nur um da nochmal einzuhaken: Das bedeutet bei den früheren Ausgaben der Werkschau wurden keine angemessenen Honorare bezahlt?
Ja, das ist so. Übrigens ist das auch weiterhin nicht ungewöhnlich. Beim Heimspiel ist es heute noch so. Solche Formate sind oft nur möglich, weil Kulturschaffende sich selbst ausbeuten.
«Formate wie die Werkschau sind nur möglich, weil Kulturschaffende sich selbst ausbeuten.»
Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung des Kantons Thurgau
Ich habe mich angesichts der übersichtlichen Zahl der Bewerber:innen auf Ratartouille gefragt - gibt es nicht genug Kulturschaffende und Institutionen im Thurgau, die so etwas umsetzen können?
Es stimmt, dass die Anzahl der Bewerbungen zuletzt gering war. Wir hatten sechs Ideen, drei davon waren im Finale. Bei der ersten Ausgabe waren es noch deutlich mehr, damals hatten wir 17 Einreichungen. Das lag aber auch daran, dass das Format neu war und die Kulturschaffenden Zeit hatten Exposees zu schreiben, weil gerade Pandemie war. Aber zu Ihrer Frage - ich glaube schon, dass es genug Kompetenz im Kanton gibt, um solche Projekte zu lancieren. Ich habe mich zuletzt auch gewundert, weshalb sich nicht mehr Kulturinstitutionen beworben haben. Meine Vermutung ist, dass alle so unter Druck sind mit eigenen Projekten, dass es schwer fällt, sich komplett neue Ideen zu überlegen.
Bei aller Kritik, die es an Ratartouille gab, gibt es auch etwas, das Ihnen Mut gemacht hat in dem Prozess?
Also, ich finde es total gut und richtig, dass es eine Debatte über das Format gab. Kulturförderung braucht genau diesen Diskurs. Ich will keinen Blankoscheck und immer nur Zustimmung, sondern freue mich über die Auseinandersetzung. Das fühlt sich manchmal vielleicht nicht schön an und ist mühsam, aber wir können darauf nicht verzichten. Andernfalls wäre der Diskurs über Kultur tot.
Und der Mutmacher?
Was mich bei der letzten Ratartouille-Ausgabe wirklich gefreut hat, war, dass es uns gelungen ist, junge Kulturschaffende aus dem Frauenfelder KAFF-Umfeld für eine Bewerbung zu motivieren. Das war genau das Ziel von Ratartouille - neue, junge Player im Thurgauer Kulturleben zu finden, sie zu ermutigen und ihnen die Chance geben, ihre Ideen und Visionen umzusetzen. Ratartouille ist in diesem Sinne auch ein Selbstermächtigungs-Werkzeug. Und es ist ein Tool, um den Generationenwechsel in der Kultur und der Kulturförderung zu steuern.
«Ich will keinen Blankoscheck und immer nur Zustimmung, sondern freue mich über die Auseinandersetzung.»
Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung des Kantons Thurgau
Hat Ratartouille auch die Kulturstiftung selbst verändert?
Ganz klar, ja. Mit Ratartouille haben wir einen Veränderungsprozess eingeläutet, der extrem wichtig war, um die Stiftung lebendig zu halten. Neben Ratartouille sind weitere Projekte wie die Recherchestipendien entstanden, wir haben die Kulturkonferenz eingeführt, wir entwickeln ein neues Format in der Literaturförderung. Ich würde sagen, dass die Kulturstiftung diskussionsoffener geworden ist. Es gibt nicht mehr das eine richtig und das andere falsch. Wir sind diverser geworden. Solche Veränderungsprozesse sind notwendig. ich bin froh, dass wir diesen Weg aktiv selbst gewählt haben und nicht von aussen dazu gezwungen wurden.
Letzte Frage: Wenn Sie es alleine entscheiden könnten, würden Sie Ratartouille fortsetzen?
Schwierige Frage. Zum guten Glück ist die Kulturstiftung keine One-Man-Show und wir entscheiden gemeinsam im Stiftungsrat. Aber ich will der Frage nicht ausweichen. Die Wahrheit ist - ich bin selbst noch unentschieden. Es gibt gute Argumente dafür es fortzuführen, wie es auch Argumente dagegen gibt. Ich bin gespannt, was die Kulturbotschaft in Frauenfeld auf die Beine stellt und dann werden wir im nächsten Jahr eine gute Entscheidung treffen.
«Mit Ratartouille haben wir einen Veränderungsprozess eingeläutet, der extrem wichtig war, um die Stiftung lebendig zu halten.»
Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung des Kantons Thurgau
Transparenz-Hinweis: Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ist eine von zwei Aktionär:innen der gemeinnützigen Thurgau Kultur AG, die thurgaukultur.ch betreibt. Alle Details zur Struktur und Finanzierung von thurgaukultur.ch findet ihr hier.

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